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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Arzneikasten war der Weg vom Kloster zur Stadt mühsam gewesen, und jetzt, wo sie nur noch zurück zum Haus des alten Benjamin und schlafen wollte, stand sie auf der falschen Seite der Bridge Street in einer Menschenmenge, während die Parade vorüberzog.
    Zuerst erkannte sie gar nicht, dass das die Assise war. Der Reiterzug mit livrierten Musikern, die Hörner bliesen und Tamburine schlugen, versetzte sie zurück nach Salerno, wo in der Woche vor Aschermittwoch der
carnevale
die Stadt eroberte, obwohl die Kirche alles tat, um das zu verhindern.
    Jetzt kamen Trommeln – und Büttel in reich verzierter Amtstracht, mit prächtigen, goldenen Keulen über der Schulter. Und, du liebe Güte, mitratragende Bischöfe und Äbte auf herausgeputzten Pferden, und manche von ihnen winkten sogar. Und ein lustiger Henker mit Kapuze und Axt …
    Doch dann begriff sie, dass der Henker nicht lustig war. Es würde keine Gaukler und Tanzbären geben. Die drei Leoparden der Plantagenets waren allgegenwärtig, und die schönen Sänften, die jetzt auf den Schultern wappenrocktragender Männer vorbeischwebten, bargen die Richter des Königs, die gekommenwaren, um Cambridge mit ihren Waagen zu wiegen, und, falls Rowley Recht behielt, es in vielen Belangen zu leicht zu finden.
    Doch die Menschen um sie herum jubelten, als wären sie ausgehungert nach Unterhaltung, als würden ihnen die bevorstehenden Gerichtsverfahren und Bußen und Todesurteile genau das liefern.
    Adelia war ganz verwirrt von dem Tumult, und plötzlich sah sie Gyltha, die sich auf der anderen Straßenseite durch die Menge nach vorne drängte, den Mund weit geöffnet, als jubelte auch sie. Aber sie jubelte nicht.
    Allerliebster Gott, mach, dass sie es nicht sagt. Es ist unsagbar, unerträglich. Schau nicht so aus.
    Gyltha rannte auf die Straße, ein Reiter zügelte fluchend sein Pferd, das zur Seite scheute, um sie nicht niederzutrampeln. Sie sprach, stierte, reckte die Hände. Sie kam näher, und Adelia trat zurück, um ihr auszuweichen, aber ihr Schrei durchdrang alles. »Hat einer von euch meinen kleinen Jungen gesehen?«
    Sie war wie eine Blinde. Sie packte Adelias Ärmel, ohne sie zu erkennen. »Hast du meinen kleinen Jungen gesehen? Er heißt Ulf. Ich kann ihn nich finden.«

Kapitel Vierzehn
    S ie saß am Ufer der Cam, an derselben Stelle, auf demselben umgedrehten Eimer, auf dem Ulf beim Angeln gesessen hatte.
    Sie beobachtete den Fluss. Sonst nichts.
    Hinter dem Haus in ihrem Rücken waren die Straßen erfüllt von Lärm und Gedränge, zum Teil wegen der Assise, aber zum größeren Teil wegen der Suche nach Ulf. Gyltha selbst, Mansur, die beiden Matildas, Adelias Patienten, Gylthas Kunden, Freunde, Nachbarn, der Gemeindevogt und alle, die einfach nur helfen wollten, suchten nach dem Kind – und zwar mit wachsender Hoffnungslosigkeit.
    »Der Junge hat sich in der Burg gelangweilt und wollte angeln gehen«, hatte Mansur Adelia so ruhig erklärt, dass er fast starr wirkte. »Ich bin mit ihm gegangen. Dann hat mich die kleine Dicke«, er meinte Matilda B, »ins Haus gerufen, um ein Tischbein auszubessern. Als ich wieder nach draußen kam, war er weg.« Er sah ihr nicht in die Augen, was seine innere Anspannung verriet. »Sag der Frau, dass es mir leid tut«, fügte er hinzu.
    Gyltha hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, hatte niemandem Vorwürfe gemacht. Das Entsetzen war zu groß, um in Zorn umzuschlagen. Ihr Körper schien geschrumpft zu sein, einer viel kleineren, älteren Frau zu gehören, aber sie war rastlos. Mansur und sie waren bereits den Fluss hinaufund hinuntergefahren, hatten jeden, den sie trafen, nach dem Jungen gefragt,waren in Boote gesprungen und hatten Decken zurückgeschlagen, wenn sie meinten, dass etwas darunter verborgen lag. Heute befragten sie die Händler an der Großen Brücke.
    Adelia ging nicht mit ihnen. Die ganze Nacht hatte sie an dem großen Sonnenfenster gestanden und den Fluss beobachtet. Heute saß sie da, wo Ulf gesessen hatte, und beobachtete ihn weiter, von einer so fürchterlichen Trauer erfasst, dass sie bewegungsunfähig war – obwohl sie in jedem Fall am Fluss geblieben wäre.
»Der Fluss ist es«,
hatte Ulf gesagt, und in ihrem Kopf lauschte sie wieder und wieder auf seine Worte, denn wenn sie aufhörte, darauf zu lauschen, würde sie ihn schreien hören.
    Rowley kam schwerfällig durch das Schilf, humpelnd, und versuchte, sie von ihrem Platz wegzuholen. Er redete auf sie ein, hielt sie in den Armen. Anscheinend wollte er sie

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