Die Totenleserin1
Hühner ihren lautstarken Protest gegen ihn wieder eingestellt hatten, wurde die Stille nur vom letzten Vogelgezwitscher durchbrochen.
Walburga steuerte den Kahn in eine schmale Bucht, von wo ein Pfad zu einem Bauernhof führte. Als sie schwerfällig ausstieg, sagte sie: »Aber lass dir bloß nicht einfallen, die ganzen schweren Sachen allein zu tragen, Schwester. Die alten Burschen sollen ruhig mit anfassen.«
»Das werden sie.«
»Und schaffst du es auch wirklich allein wieder zurück?«
Veronica nickte und lächelte. Walburga verabschiedete sich mit einem Knicks von Adelia und winkte ihnen dann hinterher.
Die Granta wurde schmaler und dunkler, suchte sich ihren Weg durch ein gewundenes, flaches Tal, in dem die Buchen mitunter so dicht am Wasser standen, dass Veronica unter den Ästen den Kopf einziehen musste.
Sie hielt an, um eine Laterne anzuzünden, die sie auf das Brett vor ihren Füßen stellte, so dass das Licht etwa einen Meter vor dem Boot das dunkle Wasser erhellte und sich in den grünen Augen von Tieren spiegelte, die sie kurz anstarrten, ehe sie im Unterholz verschwanden.
Als sie die Bäume hinter sich ließen, beschien der silbrige Mond eine schwarzweiße Landschaft aus Weiden und Hecken. Veronica steuerte das linke Ufer an. »Das Ende der Fahrt, der Herr sei gepriesen«, sagte sie.
Adelia spähte geradeaus und deutete auf eine mächtige, oben abgeflachte Silhouette in der Ferne. »Was ist das?«
Veronica wandte sich um. »Das da? Das ist Wandlebury Hill.« Natürlich, was auch sonst?
Ein winziger funkelnder Stern schien auf dem Kopf des Hügels gelandet zu sein, trügerisch, wie Sterne so sind, denn er verschwandmit einem Blinken, um mit dem nächsten wieder zurückzukehren.
Adelia rückte zur Seite, damit Veronica die Kiste mit den Hühnern unter ihren Beinen hervorziehen konnte. »Ich werde hier warten«, sagte sie.
Die Nonne warf ihr einen unsicheren Blick zu, schaute dann auf die Körbe, die noch zu den unsichtbaren Einsiedlerklausen getragen werden mussten.
Adelia sagte: »Würdet Ihr die Laterne hier bei mir lassen?«
Schwester Veronica legte den Kopf schief. »Angst vor der Dunkelheit?«
Adelia überlegte kurz. »Ja.«
»Dann behaltet sie, und möge der Herr Euch behüten. Ich bin bald wieder zurück.« Die Nonne schwang sich einen Sack über die Schulter, packte die Kiste mit der anderen Hand und verschwand über einen mondbeschienenen Pfad zwischen den Bäumen.
Adelia wartete einen Moment, dann setzte sie Aufpasser ans Ufer, nahm die Laterne, vergewisserte sich, dass die Stumpenkerze noch länger halten würde, und marschierte los.
Eine Weile schlängelte sich der Fluss mit seinem Uferpfad halbwegs in die Richtung, in die sie wollte, doch nach zirka einer Meile merkte sie, dass sie zu weit nach Süden abkam. Sie wandte sich vom Ufer ab und ging schnurgerade nach Osten, Luftlinie, nur dass sie eben nicht durch die Luft flog, sondern auf durchaus irdische Hindernisse stieß: dichtes Dornengestrüpp, kleine Hügel und Senken, die vom letzten Regen noch rutschig waren, hohe Flechtzäune, die sie mal kletternd, mal kriechend überwand, mitunter aber auch schlicht umgehen musste.
Falls menschliche Augen vom Wandlebury aus Ausschau hielten, so sahen sie ein winziges, verlorenes Licht, das über dasdunkle Land irrte, scheinbar ziellos mal in diese, mal in jene Richtung, während Adelia immer wieder irgendeinem Hindernis auswich. Manchmal stockte das Licht, weil sie strauchelte und ungeschickt stürzte, damit die Laterne nicht zu Boden fiel und ausging. Und immer blieb Aufpasser neben ihr stehen, bis sie wieder auf den Beinen war.
Mitunter erschrak sie sich, wenn wie aus dem Nichts ein Reh oder ein Fuchs ihren Weg kreuzte. Ihr eigener schluchzender Atem war so laut, dass sie nichts anderes mehr hörte, doch sie schluchzte nicht vor Trauer oder Erschöpfung, sondern vor Anstrengung.
Aber der Beobachter auf dem Wandlebury, falls dort einer war, hätte sehen können, dass das kleine Licht trotz aller Kapriolen stetig näher kam.
Und während Adelia sich durch das finstere Tal arbeitete, sah sie den Hügel allmählich anschwellen, bis er alles andere vor ihr überragte. Der Stern, der sich auf seiner Kuppe verfangen hatte, blinkte nicht mehr, sondern leuchtete ruhig und friedlich.
Sie musste fast würgen, während sie weiterging, angewidert von ihrer eigenen Dummheit.
Warum bin ich nicht direkt dorthin? Die Kinderleichen haben es mir gesagt, sie haben es mir gesagt. Kreide, haben
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