Die Totenleserin1
es bereits dunkel geworden. Adelia erwartete ihn am Ende der Reihe vor Schwester Veronicas Zelle, um ihm den Weg zu den oberen Zellen zu leuchten.
Er blieb stehen. »Ich habe Schwester Odilia die Sterbesakramente gegeben.«
»Prior, ich hoffe noch, sie zu retten.«
Er klopfte ihr auf die Schulter. »Selbst Ihr könnt keine Wunder vollbringen, meine Tochter.« Er schaute zurück in die Zelle, dieer gerade verlassen hatte. »Ich sorge mich um Schwester Veronica.«
»Ich auch.« Der jungen Nonne ging es unerklärlich schlecht.
»Die Beichte hat dem Kind nicht die Last seiner Sünden nehmen können«, sagte Prior Geoffrey. »Mitunter tragen besonders fromme Menschen, wie sie einer ist, das Kreuz allzu großer Gottesfurcht. Für Veronica ist das Blut unseres Herrn noch immer feucht.«
Adelia führte ihn die vom Regen schlüpfrige Treppe hinauf, über die er sich heftig beschwerte, und ging wieder hinunter zu Odilias Zelle. Die Krankenpflegerin lag so da wie schon seit Tagen. Ihre dürren, von Erde verfärbten Hände zupften an der Decke, um sie abzuwerfen.
Adelia deckte sie wieder richtig zu, wischte etwas von dem Öl ab, das ihr von der Stirn tropfte, und versuchte, sie mit Gylthas Kalbsfußsülze zu füttern. Die alte Frau presste die Lippen zusammen. »Das gibt Euch Kraft«, flehte Adelia sie an. Es half nichts. Odilias Seele wollte sich des hohlen, ausgebrannten Körpers entledigen.
Adelia hatte das Gefühl, sie im Stich zu lassen, aber Gyltha und die beiden Matildas waren, wenn auch widerstrebend, gegangen, so dass nur noch sie und die Priorin da waren, um den anderen Schwestern etwas zu essen zu verabreichen.
Walburga, ehemals Ulfs »Schwester Speckgesicht«, war jetzt wesentlich dünner. Sie sagte: »Der Herr hat mir vergeben, der Herr sei gelobt.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Hier, macht den Mund auf.« Aber nach ein paar Löffeln wurde die Schwester von einer neuen Sorge erfasst: »Wer bringt denn jetzt den Einsiedlern das Essen? Wir dürfen doch nicht essen, wenn sie darben.«
»Ich werde mit Prior Geoffrey sprechen. Mund auf. Einen für den Vater. So ist’s brav. Einen für den Heiligen Geist …«
Schwester Agatha gleich nebenan musste sich nach drei Löffeln gleich wieder übergeben. »Sorgt Euch nicht«, sagte sie und wischte sich den Mund ab. »Morgen geht’s mir besser. Wie geht es den anderen? Ich will die Wahrheit hören.«
Adelia mochte Agatha, die Nonne, die so mutig oder so betrunken gewesen war, sich während des Festes auf Grantchester mit Bruder Gilbert anzulegen. »Den meisten geht’s schon wieder besser«, sagte sie, und als Agatha sie fragend anschaute, fuhr sie fort: »Aber Schwester Odilia und Schwester Veronica bereiten mir noch immer Sorgen.«
»Oh nein, nicht Odilia«, sagte Agatha beschwörend. »Sie ist so eine gute alte Seele. Maria, Mutter Gottes, bitte für sie.«
Und Veronica? Für sie keine Fürbitte? Die Auslassung war eigenartig; sie war Adelia auch bei anderen Nonnen aufgefallen, wenn sie sich nach dem Befinden ihrer Schwestern in Christo erkundigten. Nur Walburga, die etwa im selben Alter war, hatte nach Veronica gefragt.
Vielleicht wurde die junge Nonne beneidet, weil sie schön und jung war oder weil sie ganz offensichtlich der Liebling der Priorin war.
Eindeutig der Liebling, dachte Adelia. Auf Joans Gesicht hatte sich ein großer Schmerz gezeigt, als sie die leidende Veronica sah, ein Schmerz, der von großer Liebe zeugte. Adelia, die jetzt für Liebe in all ihren Formen empfänglich war, merkte, dass sie die Frau aus tiefstem Herzen bemitleidete, und sie fragte sich, ob die Energie, die Joan in die Jagd steckte, nicht vielleicht Ablenkung von einer Leidenschaft war, für die sie als Nonne, und vor allem als Nonne mit Autorität, von Schuldgefühlen gemartert werden musste.
War sich Schwester Veronica bewusst gewesen, dass sie ein Objekt der Begierde war? Wahrscheinlich nicht. Wie Prior Geoffrey gesagt hatte, besaß das Mädchen eine Weltfremdheit,die von einem spirituellen Leben kündete, das dem Rest des Klosters fremd war.
Als der Prior auch in den oberen Zellen fertig war, wies Adelia ihn an, sich die Hände im Weinbrand zu waschen. Das erstaunte ihn. »Ich wende ihn sonst innerlich an. Gleichwohl, ich stelle nichts mehr in Frage, was Ihr von mir verlangt.«
Sie leuchtete ihm zum Tor, wo ein Reitknecht mit zwei Pferden auf ihn wartete. »Ein heidnischer Ort ist das«, sagte er zögernd. »Vielleicht liegt es an der Architektur oder an den
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