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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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töten. Rakshasa, ebenso primitiv wie sie, hatte eine Waffe benutzt, die von einem finsteren Volk in finsteren Zeiten gefertigt worden war.
    Sie schloss die Augen.
    Aber die Blutflecken waren dunkel. Auf dem Amboss dort war in den letzten Stunden niemand gestorben. »Ulf!«, schrie sie gellend und riss die Augen auf.
»Ulf!«
    Links von ihr, aus der Dunkelheit des niedrigen Tunnels, gedämpft vom porösen Kreidegestein und doch hörbar, kam ein unsicheres Stöhnen.
    Adelia wandte das Gesicht zu dem kreisrunden Stück Himmel über ihrem Kopf und stieß ein Dankgebet aus. Die Übelkeit von der Gehirnerschütterung, der Würgereiz vom Geruch der erstickenden Kreide, vom Gestank irgendeines Harzes, das die Fackeln verbrannten, wurde von einem Hauch frischer Mailuft verdrängt. Der Junge lebte.
    Nun denn. Dort auf dem Amboss, nur wenige Schritte entfernt, lag eine Waffe für sie griffbereit.
    Ihre Hände waren zwar über ihrem Kopf festgebunden, doch sehr wahrscheinlich waren ihre Handschellen genau wie die von Schwester Veronica an einem Bolzen befestigt, der in das nackte Kreidegestein getrieben worden war. Und Kreide war und blieb Kreide: sie war brüchig und schlecht geeignet, irgendetwas festzuhalten – wie Sand.
    Adelia beugte die Ellbogen und zog an dem Bolzen über ihrem Kopf.
O Gott, o verdammt
. Ein wilder Schmerz durchfuhr wieein glühendes Eisen ihre Brust. Diesmal hatte sie sich bestimmt,
ganz bestimmt
, die Lunge verletzt. Sie hing kraftlos da, keuchte, rechnete damit, dass ihr Blut aus dem Mund quoll. Nach einer Weile begriff sie, dass sie noch einmal Glück gehabt hatte, aber wenn diese verfluchte Nonne nicht mit der Jammerei aufhörte …
    »Hört auf zu faseln«, schrie sie die junge Frau an. »Seht her, Ihr müsst ziehen.
Ziehen
, verdammt noch mal. Der Bolzen. In der Wand. Der kommt raus, wenn Ihr kräftig genug dran zerrt.« Trotz des Schmerzes hatte sie gespürt, dass die Kreide über ihr etwas nachgegeben hatte.
    Aber Veronica konnte,
wollte
sie einfach nicht verstehen. Ihre Augen blickten groß und wild, wie ein Reh, das die Hunde nahen sieht; sie faselte.
    Ich muss es allein schaffen.
    Ein weiterer kräftiger Ruck kam nicht in Frage, aber wenn sie an den Handschellen rüttelte, würde sich der Bolzen vielleicht lockern und schließlich rausziehen lassen.
    Hektisch begann sie, die Hände auf und ab zu bewegen, dachte an nichts anderes mehr als an das Stück Eisen, als wäre sie mit ihm zusammen von Kreide umschlossen, bewegte es kaum merklich, unter Schmerzen, Schmerzen, doch dann
sah
sie, wie sich der Bolzen in der Wand rührte …
    Die Nonne schrie auf.
    »Ruhe«, schrie Adelia zurück. »Ich muss mich konzentrieren.«
    Die Nonne schrie weiter. »Er kommt.«
    Rechts von ihr hatte sich etwas bewegt. Zögernd wandte Adelia den Kopf. Wegen der Tunnelbiegung konnte Adelia zwar nicht unmittelbar sehen, was Veronica sah, aber es spiegelte sich in dem Kreuzritterschild. Die unebene, konvexe Oberfläche warf das Bild eines dunklen Körpers zurück, verkleinert und monströszugleich. Die Gestalt war nackt und betrachtete sich selbst. Sie posierte, berührte ihre Genitalien und dann das Gestell auf ihrem Kopf.
    Der Tod bereitete sich auf seinen Auftritt vor.
    Es war ein Augenblick äußersten Entsetzens, und mit einem Schlag war Adelia nicht mehr sie selbst. Wenn sie gekonnt hätte, sie wäre auf Knien zu dem Wesen hingekrochen und hätte gefleht: Nimm die Nonne, nimm den Jungen, verschone mich. Wären ihre Hände frei gewesen, sie wäre zur Leiter gerannt und hätte Ulf zurückgelassen. Sie verlor allen Mut, alle Vernunft, alles. Zurück blieb nur der nackte Selbsterhaltungstrieb.
    Und Reue. Reue durchdrang die Panik mit einer Vision, in der sie nicht etwa ihren Schöpfer sah, sondern Rowley Picot. Sie würde sterben, grauenhaft sterben, ohne je einen Mann auf die einzige gesunde Weise geliebt zu haben, die es gab.
    Das Wesen trat aus dem Gang; es war groß, wirkte noch größer durch das Geweih auf seinem Kopf. Der obere Teil des Gesichts und die Nase waren hinter einer Hirschkopfmaske verborgen, doch der übrige Körper war menschlich, mit dunklem Haar auf der Brust und im Schambereich. Der Penis war steif. Es kam auf Adelia zustolziert, drückte sich gegen sie. Wo Hirschaugen hätten sein sollen, waren Löcher, aus denen blaue menschliche Augen sie anstarrten. Der Mund grinste. Sie roch Tier.
    Sie kotzte.
    Als das Tier zurücksprang, um ihrem Erbrochenen auszuweichen, wippte das Geweih ein wenig, und

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