Die Totenleserin1
dich nicht abwerfen. Lass nicht los. Dreh. Töte.
Die Schnur des Geweihs riss, und sie hielt es weiter fest. Der Körper unter ihr glitt von ihr weg, fuhr herum und wollte sich auf sie stürzen.
Eine Sekunde lang belauerten sie sich gegenseitig, mit wildem Blick und keuchend. Das Geräusch war jetzt laut. Es kam oben vom Schachteingang, eine Mischung von vertrauten Klängen, die so schlecht zu diesem Kampf auf Leben und Tod passten, dass Adelia gar nicht darauf achtete.
Aber das Tier nahm sie wahr. Seine Augen veränderten sich, sie sah, wie etwas in ihnen erlosch. Die pure Lust des Tötens verschwand aus ihnen. Das Wesen war noch immer ein Tier mit gebleckten Zähnen, aber es hatte den Kopf gereckt, schnüffelte, überlegte: Es hatte Angst.
Gütiger Himmel, dachte sie und fürchtete sich fast zu glauben, was sie da hörte. Schön, o wie schön, ein Jagdhorn und das Bellen von Hunden.
Rakshasas Jäger nahten.
Ihre Lippen öffneten sich zu einem Grinsen, das ebenso bestialisch war wie seins. »Jetzt stirbst du«, sagte sie.
Ein Ruf drang von oben in den Schacht. »Hallooo.« Schön, o wie schön. Es war Rowleys Stimme. Und Rowleys große Füße kamen die Leiter herab.
Die Augen des Tiers waren überall, suchten verzweifelt nach dem Messer. Adelia sah es zuerst. »Nein.« Sie warf sich darauf, bedeckte es. Das kriegst du nicht.
Rowley, das Schwert in der Hand, war fast am Fuß der Leiter, doch die Körper von Ulf und Veronica lagen ihm im Weg.
Vom Boden aus versuchte Adelia Rakshasas Fuß zu packen, als er an ihr vorbeilief, doch ihre Finger rutschten ab. Rowley schob die Nonne und den Jungen mit dem Fuß beiseite.
Rakshasa verschwand in dem großen Tunnel, und Adelias Sicht auf seine Beine und sein Gesäß wurde von Rowleys Beinen und Gesäß versperrt, als der hinter ihm herstürmte. Sie sah Rowley über den Schild straucheln und mit wedelnden Armen stürzen; sie hörte ihn fluchen – dann war er verschwunden. Sie setzte sich auf und blickte nach oben. Das Hundegebell war jetzt laut. Sie sah Nasen und Zähne über den Rand des Schachtlochs ragen. Die Leiter bebte. Irgendwer kletterte nach unten. Ihr ganzer Körper schmerzte. Zusammenzubrechen wäre jetzt schön gewesen, aber sie wagte es noch nicht. Es war nicht zu Ende – das Messer war verschwunden.
Ebenso wie Veronica und das Kind.
Rowley kam aus dem Tunnel gerannt, trat den Schild beiseite, der gegen den Amboss prallte. Er riss eine Fackel aus der Wandhalterung und verschwand damit wieder im Tunnel.
Adelia war in Dunkelheit gehüllt; die andere Fackel war ebenfalls weg. Ein kurzer Lichtschein offenbarte ihr eine kleine Kalkstaubwolke und den Saum eines schwarzen Habits, der gerade in dem Tunnel verschwand, aus dem Ulf gekommen war. Adelia kroch hinterher. Nein.
Nein
, jetzt doch nicht mehr. Wir sind gerettet. Gib ihn mir.
Es war ein kleiner Versuchstunnel, aus dem aber nicht gefördert worden war, denn das Licht von Veronicas Fackel ließ eine unebene glänzende Schicht Feuerstein erkennen, die sich wie eine Wandverkleidung über den gesamten Gang erstreckte. Der Tunnel machte einen Knick, und das Licht von vorn verschwand. Sogleich wurde Adelia in so tiefe Finsternis getaucht, als wäre sie plötzlich blind geworden. Sie kroch weiter.
Nein. Jetzt nicht mehr. Nicht jetzt, wo wir gerettet sind.
Sie konnte nur halbschräg kriechen; ihr linker Arm, in den Rakshasa sein Messer gestoßen hatte, wurde immer schwächer. Müde, so müde. Sie war es müde, sich zu fürchten. Keine Zeit,müde zu sein,
nein
. Jetzt nicht mehr. Kreidebröckchen zerbröselten unter ihrer rechten Hand, wenn sie sie aufsetzte. Ich werde ihn dir wegnehmen. Gib ihn mir.
Sie fand sie in einer winzigen Kammer, zusammengedrängt wie zwei Kaninchen. Ulf schlaff in der Umklammerung der Nonne, die Augen geschlossen. Schwester Veronica reckte die Fackel mit einer Hand hoch; die andere, die um das Kind lag, hielt das Messer.
Die schönen Augen der Nonne blickten nachdenklich. Sie war bei Verstand, obwohl ihr der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte. »Wir müssen ihn beschützen«, erklärte sie Adelia. »Den Jungen hier soll das Tier nicht bekommen.« »Nein«, sagte Adelia bedächtig. »Er ist fort, Schwester. Sie werden ihn jagen und zur Strecke bringen. Gebt mir jetzt das Messer.«
Ein paar Lumpen lagen neben einem Eisenpfahl, der tief in den Boden eingelassen war und an dem eine Hundeleine hing. Das Halsband war gerade groß genug für einen Kinderhals. Sie waren in Rakshasas
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