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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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konnte als sie. Erst wenn der Handel abgeschlossen war, die Allianz besiegelt, das Geheimnis enträtselt, erst dann wurde ihnen klar, dass Simon genau das erreicht hatte, was seine Herren wollten. »Aber er ist und bleibt ein Tölpel«, redeten sie sich ein.
    Und ebendiesem Tölpel, der den Charakter und die frische Dankesschuld des Priors bis aufs Kleinste durchschaut hatte, erzählte ein gefügiger Prior nun alles, was der Tölpel wissen wollte … Es war vor etwas über einem Jahr gewesen. Am Freitag vor Palmsonntag. Der achtjährige Peter, ein Kind aus Trumpington, einem Dorf am südwestlichen Rand von Cambridge, war von seiner Mutter losgeschickt worden, um Weidenkätzchenzweige zu schneiden, »die in England am Palmsonntag statt der Palmen als Dekoration verwendet werden«.
    Peter war nicht zu den Weiden in der Nähe seines Elternhauses gelaufen, sondern an der Cam entlang Richtung Norden, wo er zu einem Baum wollte, der direkt am Flussufer unweit des Klosters St. Radegund stand und als besonders heilig galt, weil ihn die heilige Radegund selbst gepflanzt hatte.
    »Als ob«, unterbrach der Prior seine Erzählung erbost, »eine deutsche Heilige aus der finsteren Zeit bis nach Cambridgeshire gelaufen wäre, um einen Baum zu pflanzen. Aber dieser Raffzahn …«, er meinte die Priorin von St. Radegund, »behauptet ja die tollsten Dinge.«
    Es traf sich, dass ausgerechnet an dem Tag etliche der reichsten und bedeutendsten Juden Englands nach Cambridge gekommen waren, um im Haus von Chaim Leonis die Hochzeit von Chaims Tochter zu feiern. Peter war unterwegs zu dem Weidenbaum auf die Feierlichkeiten auf der anderen Flussseite aufmerksam geworden.
    Deshalb war er nicht auf demselben Weg zurück nach Hause gegangen, sondern hatte die kürzere Strecke zum Judenviertel genommen, über die Brücke und durch die Stadt, um sich die Kutschen und herausgeputzten Pferde der fremden Juden in Chaims Ställen anzusehen.
    »Sein Onkel, Peters Onkel, war nämlich Chaims Stallmeister.«
    »Dürfen Christen denn hier für Juden arbeiten?«, fragte Simon, als wüsste er die Antwort nicht schon. »Großer Gott.«
    »Aber ja. Die Juden sind gute Arbeitgeber. Und Peter war oft in den Ställen, sogar in der Küche, wo ihm Chaims Koch – der Jude war – manchmal irgendwelche Leckereien zugesteckt hat, was dem ganzen Haus dann später als Verführung zur Last gelegt wurde.«
    »Sprecht weiter, Mylord.«
    »Nun, Peters Onkel Goodwin hatte bei den vielen Pferden, um die er sich kümmern musste, keine Zeit für den Kleinen und schickte ihn nach Hause, wo der Junge aber nie ankam. Das fiel erst am späten Abend auf, als Peters Mutter in der ganzen Stadt nach ihm fragte. Die Wache wurde verständigt, ebenso die Flusswächter – es stand zu befürchten, dass der Junge in die Cam gefallen war. Im Morgengrauen wurden beide Ufer abgesucht. Nichts.«
    Über eine Woche lang nichts. Während Städter und Dörfler am Karfreitag in ihren Pfarrkirchen auf den Knien zum Kreuz krochen, wurden Gebete an den Allmächtigen gerichtet, er möge Peter aus Trumpington doch wieder zurückbringen.
    Am Ostermontag wurden die Gebete erhört. Doch wie grässlich. Man fand Peters Leiche im Fluss nicht weit von Chaims Haus, wo sie sich unter einem Bootssteg verfangen hatte.
    Der Prior zuckte mit den Achseln. »Doch da gab noch niemand den Juden die Schuld. Kinder stolpern, sie fallen in Flüsse, Brunnen, Gräben. Nein, wir glaubten an einen Unfall, bisMartha die Wäscherin sich zu Wort meldete. Martha wohnt auf der Bridge Street, und einer ihrer Kunden ist Chaim Leonis. Sie sagte, sie habe an dem Abend, als der kleine Peter verschwand, einen Korb mit sauberer Wäsche zu Chaim gebracht. Da die Hintertür offen stand, ist sie hineingegangen …«
    »Sie hat so spät noch Wäsche ausgeliefert?«, fragte Simon erstaunt.
    Prior Geoffrey neigte den Kopf. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass Martha neugierig war. Sie hatte noch nie eine jüdische Hochzeit gesehen. Das hat natürlich keiner von uns. Wie dem auch sei, sie ist hineingegangen. Der rückwärtige Teil des Hauses war menschenleer, da sich die Feierlichkeiten hauptsächlich im Garten vor dem Haus abspielten. Eine Tür zu einem Zimmer, das vom Flur abging, war nur angelehnt …«
    »Schon wieder eine offene Tür«, sagte Simon offensichtlich erneut verwundert.
    Der Prior warf ihm einen Blick zu. »Erzähle ich Euch etwas, was Ihr bereits wisst?«
    »Verzeiht mir, Mylord. Redet weiter, ich bitte

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