Die Totenleserin1
hat ihn bloß geschickt, den armen Tölpel?
Als Simon geendet hatte, trat Stille ein, nur auf einem Wildkirschbaum zwitscherte eine Amsel.
»Ihr seid von den Juden entsandt worden, um die Juden zu retten?«
»Keineswegs, Mylord. Wirklich, nein. Die treibende Kraft bei diesem Unternehmen scheint der König von Sizilien zu sein, ein Normanne, wir Ihr sicherlich wisst. Ich habe mich schon selbst darüber gewundert. Aber ich kann mir nicht helfen, mir scheint, dass auch noch andere Kräfte am Werk sind. Jedenfalls wurden unsere Pässe in Dover gar nicht überprüft, so dass ich vermute, dass die englische Obrigkeit nicht in Unkenntnis überunsere Absichten ist. Seid versichert, sollte sich herausstellen, dass die Juden von Cambridge dieses grausigen Verbrechens schuldig sind, werde ich selbst nicht zögern, den Strick zu knüpfen, an dem sie aufgehängt werden.«
Gut. Das akzeptierte der Prior. »Aber warum war es nötig, auch noch ein Weib mitzunehmen, wenn ich fragen darf? Eine derartige Kuriosität wird, so sie herauskommt, höchst ungebetene Aufmerksamkeit erregen.«
»Auch ich hatte da zunächst meine Zweifel«, sagte Simon.
Zweifel? Er war entsetzt gewesen. Das Geschlecht der Person, die ihn begleiten sollte, war ihm erst klar geworden, als sie und ihre Entourage an Bord des Schiffes kamen, das sie alle nach England bringen sollte. Zu einem Zeitpunkt, als es für jeden Protest zu spät war, und er hatte protestiert – Gordinus der Afrikaner, der größte Arzt und naivste Mensch, hatte sein wildes Gestikulieren als Abschiedswinken verstanden und freundlich zurückgewinkt, während der Abstand zwischen Heckreling und Kai sich unaufhaltsam weitete.
»Ich hatte meine Zweifel«, wiederholte er, »doch sie erwies sich als bescheiden, fähig und des Englischen überaus mächtig. Und außerdem …« Simon strahlte, wobei sein durchfurchtes Gesicht vor Vergnügen noch mehr Falten warf und die Aufmerksamkeit des Priors von einem heiklen Punkt ablenkte; der Augenblick würde kommen, an dem er Adelias spezielle Fähigkeiten offenbaren würde, aber noch war es nicht so weit. »… die Pläne des Herrn sind unergründlich, wie meine Frau sagen würde. Warum wohl war sie denn gerade in der Stunde Eurer größten Not zur Stelle?«
Prior Geoffrey nickte bedächtig. Das war unstrittig. Er selbst hatte dem allmächtigen Gott bereits auf Knien dafür gedankt, dass er sie zu ihm geführt hatte.
»Es wäre hilfreich«, sprach Simon aus Neapel behutsam weiter,»wenn wir vor unserer Ankunft in der Stadt möglichst viel darüber erfahren würden, wie das Kind ermordet wurde und wie es dazu kommen konnte, dass zwei weitere vermisst werden …« Er ließ den Satz im Raum stehen.
»Die Kinder«, sagte Prior Geoffrey schließlich mühsam. »Ich muss Euch sagen, Master Simon, dass sich ihre Zahl zu dem Zeitpunkt, als wir nach Canterbury aufgebrochen sind, nicht mehr auf zwei belief, wie man Euch gesagt hat, sondern auf drei. Fürwahr, hätte ich nicht geschworen, diese Pilgerfahrt anzutreten, ich hätte Canterbury nicht verlassen, weil ich fürchte, dass die Zahl weiter steigt. Gott sei ihrer Seele gnädig, wir alle fürchten, dass den Kleinen das Gleiche widerfahren ist wie dem ersten Kind, Peter. Kreuzigung.«
»Nicht durch die Hand von Juden, Mylord. Wir kreuzigen keine Kinder.«
Ihr habt den Sohn Gottes gekreuzigt, dachte der Prior. Armer Tölpel, wenn du dort, wo du hinwillst, bekennst, dass du Jude bist, reißen sie dich in Stücke. Und deine Ärztin gleich mit. Verdammt, dachte er, ich werde nicht umhin können, mich einzumischen.
Er sagte: »Master Simon, ich muss Euch sagen, dass unser Volk gegen die Juden sehr aufgebracht ist und fürchtet, dass weitere Kinder geraubt werden könnten.«
»Mylord, was haben die Nachforschungen bislang ergeben? Welche Beweise gibt es dafür, dass die Juden schuldig sind?«
»Die Anschuldigung wurde gleich zu Anfang erhoben«, sagte Prior Geoffrey, »und ich fürchte, nicht ohne Grund …«
Simon Menahem aus Neapel besaß in seiner Eigenschaft als Agent, Ermittler, Vermittler, Aufklärer, Spion – die Mächtigen, die ihn gut kannten, hatten ihn bereits in all diesen Funktionen eingesetzt – die große Gabe, Menschen glauben zu machen, er sei der, der er zu sein schien. Sie konnten sich einfach nichtvorstellen, dass dieser schmächtige, nervöse kleine Mann, der so übereifrig, ja simpel wirkte, der Informationen ausplauderte, die allesamt vertraulich waren, tatsächlich klüger sein
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