Die Totenleserin1
war. »Vermutlich habt Ihr Recht«, sagte Simon. »Als wir zu unserer Mission aufbrachen, hatte sie eine Begleiterin, ihre Amme aus Kindertagen, doch die alte Frau ist unterwegs gestorben.«
»Ich rate Euch, eine andere zu suchen.« Der Prior schwieg kurz, dann fragte er: »Ihr sprecht von einer Mission. Darf ich fragen, worum es sich dabei handelt?«
Simon schien zu zögern.
Prior Geoffrey sagte: »Master Simon, ich vermute, Ihr seid nicht den weiten Weg von Salerno hierhergekommen, allein um irgendwelche Allheilmittelchen zu verkaufen. Falls Eure Mission delikater Natur ist, könnt Ihr es mir bedenkenlos anvertrauen.«
Als der Mann immer noch zögerte, schnalzte der Prior ärgerlich mit der Zunge, weil er etwas klarstellen musste, was doch eindeutig auf der Hand lag. »Master Simon, Ihr könntet mich sozusagen an meiner empfindlichsten Stelle treffen, genau wie letzte Nacht. Wie könnte ich denn Euer Vertrauen missbrauchen, wo Ihr doch jetzt in der Lage seid, einen derartigen Verrat auf der Stelle zu rächen, indem Ihr den Stadtausrufer davon in Kenntnis setzt, dass ich, ein Kanonikus von St. Augustine und ein Mann von einigem Ansehen in Cambridge und, wie ich mir schmeicheln darf, auch im weiteren Umland, nicht nur zugelassen habe, dass eine Frau mein Gemächt in die Hände nimmt, sondern dass sie auch noch eine Pflanze hineinschiebt? Wie würde das, um den unsterblichen Horaz zu paraphrasieren, in Korinth ankommen?«
»Ha«, sagte Simon.
»Fürwahr. Sprecht frei heraus, Master Simon. Befriedigt die Neugier eines alten Mannes.«
Und Simon erzählte es ihm. Sie seien gekommen, um herauszufinden, wer die Kinder von Cambridge entführte und ermordete, sagte er. Keinesfalls, sagte er, sei ihre Mission als Anmaßung gegenüber der hiesigen Obrigkeit zu verstehen, aber »eine Ermittlung durch die Obrigkeit verschließt mitunter mehr Münder, als sie öffnet, wo wir hingegen, inkognito und unauffällig …« Da Simon nun einmal Simon war, ging er auf diesen Punkt ausführlich ein. Es sei keine Einmischung. Weil aber die Entdeckung des Täters auf sich warten lasse … offensichtlich ein ganz besonders verschlagener und gerissener Mörder … könnten in diesem Fall besondere Maßnahmen … »Unsere Herren, die uns entsandt haben, sind offenbar der Ansicht, dass die Mistress Ärztin und ich über die Fähigkeiten verfügen, die für diese Aufgabe erforderlich sind …«
Während Prior Geoffrey der Schilderung lauschte, erfuhr er, dass Simon aus Neapel Jude war. Sogleich erfasste ihn eine Welle von Panik. Als Herr einer großen klösterlichen Stiftung war er für den Zustand der Welt mitverantwortlich, wenn sie Gott am Tag des Jüngsten Gerichts zurückgegeben werden musste, was in allernächster Zukunft der Fall sein könnte. Wie sollte er vor einem Allmächtigen Rechenschaft ablegen, der geboten hatte, dass in dieser Welt nur ein wahrer Glaube zu herrschen habe? Wie vor dem Thron Gottes die Existenz einer unbekehrten Infektion in einem Körper erklären, der doch heil und vollkommen zu sein hatte? Und gegen die er nichts unternommen hatte?
Menschlichkeit kämpfte gegen die Lehren des Priesterseminars – und gewann. Es war ein alter Kampf. Was konnte er denn tun? Er gehörte nicht zu jenen, die sich für die Vernichtung aussprachen. Er wollte nicht zulassen, dass die Seele, fallsJuden überhaupt eine Seele hatten, vom Körper getrennt und in den Höhlenpfuhl gestoßen wurde. Er unterstützte die Juden von Cambridge, und damit nicht genug, er schützte sie auch, obwohl er mit aller Macht gegen andere Kirchenmänner wetterte, die der Sünde der Wucherei Vorschub leisteten, indem sie sich bei den Juden Geld liehen.
Und jetzt stand er selbst bei einem von ihnen in der Schuld – schuldete ihm sein Leben. Und wenn dieser Mann, ob nun Jude oder nicht, tatsächlich das Geheimnis lösen konnte, unter dem Cambridge so qualvoll litt, dann würde Prior Geoffrey ihm zu Diensten sein. Warum aber hatte er einen Arzt, nein,
eine Ärztin,
bei sich?
Also hörte sich Prior Geoffrey Simons Geschichte an, und wenn er zuvor schon erstaunt gewesen war, so verschlug es ihm nun vollends die Sprache – nicht zuletzt wegen der Offenheit des Mannes, einer Eigenschaft, die ihm unter seinesgleichen bislang noch nicht begegnet war. Statt Gerissenheit oder gar Verschlagenheit hörte er hier die Wahrheit.
Er dachte: Armer Tölpel, er muss nicht lange überredet werden, um seine Geheimnisse preiszugeben. Er ist zu arglos, ohne Falsch. Wer
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