Die Totenleserin1
die Sonne aufging, fiel das Gelände sanft ab, nach Westen zum Flachland hin steil.
Adelia öffnete ihren Umhang, verschränkte die Hände im Nacken und reckte sich, ließ die frische Luft durch die vermaledeite, in Dover gekaufte Tunika aus grober Wolle dringen, die sie nur trug, weil Simon aus Neapel sie so beschwörend darum gebeten hatte. »Wir müssen uns unter die Bürger Englands begeben, Doktor. Wenn wir uns unter sie mischen, um herauszufinden, was sie wissen, müssen wir so aussehen wie sie.«
»Und Mansur sieht natürlich aus wie der geborene angelsächsische Leibeigene«, hatte sie entgegnet. »Und was ist mit unserem Akzent?«
Aber Simon hatte sich nicht davon abbringen lassen, dass drei fremde fahrende Händler, die Arzneien verkauften, was beim einfachen Mann stets gut ankam, mehr Geheimnisse herausfinden würden als tausend Inquisitoren. »Wir lassen uns nicht durch Standesunterschiede von denjenigen fernhalten, die wir befragen müssen. Uns geht es um die Wahrheit, nicht um Respekt.«
»In diesem Aufzug«, hatte sie über die Tunika gesagt, »wird man mich bestimmt nicht mit Respekt überschütten.« Doch Simon, der in der Kunst der Täuschung erfahrener war als sie, leitete nun einmal diese Mission. Adelia hatte das Kleidungsstück übergestreift – praktisch ein Schlauch, der an den Schultern mit Spangen festgehalten wurde –, hatte aber ihr seidenes Untergewand anbehalten. Sie war zwar nie im Strom der Mode mitgeschwommen, aber sie dachte gar nicht daran, Sackleinen auf ihrer Haut zu dulden, nicht einmal für den König von Sizilien.
Das Licht blendete sie, und sie schloss die Augen, erschöpft von einer Nacht, in der sie bei ihrem Patienten gewacht hatte, ob er auch kein Fieber bekam. Im Morgengrauen hatte sich die Haut des Priors kühl angefühlt, sein Puls regelmäßig. Die Behandlung hatte vorläufig Erfolg gezeitigt. Jetzt blieb abzuwarten, ob er ohne Hilfe und schmerzfrei urinieren konnte. So weit, so gut, wie Margaret immer gesagt hatte.
Sie stapfte los, und während sie den Blick auf der Suche nach nützlichen Pflanzen schweifen ließ, bemerkte sie, dass ihr mit jedem Schritt, den sie in den billigen Stiefeln tat – ein weiterer verflixter Bestandteil ihrer Verkleidung –, süße, unbekannte Düfte in die Nase stiegen. Hier oben im Gras versteckten sich kleine Kostbarkeiten, die ersten Eisenkrautblättchen, Gundermann, Katzenminze, Günsel,
Clinopodium vulgare
, das die Engländer wildes Basilikum nannten, obwohl es weder so aussahnoch so roch wie echtes Basilikum. Sie hatte einmal ein altes englisches Pflanzenbuch gekauft, das die Mönche von Santa Lucia erworben hatten, aber nicht lesen konnten, und es Margaret geschenkt, als Erinnerung an ihre Heimat. Dann aber hatte sie es selbst gründlich studiert.
Und hier nun wuchsen die Abbildungen aus dem Buch lebendig zu ihren Füßen, was sie so begeisterte, als hätte sie ein berühmtes Gesicht auf der Straße entdeckt.
Der kräuterkundige Verfasser des Buches hatte sich wie die meisten seiner Zunft stark an Galen angelehnt und die üblichen unbewiesenen Behauptungen aufgestellt: Lorbeer zum Schutz gegen Blitzschlag, Baldrian, um die Pest abzuwehren, Majoran, um den Uterus zu festigen – als ob der Uterus einer Frau bis zum Hals hinaufschwebte und dann wieder nach unten wie eine Kirsche in einer Flasche. Wieso sah sich das keiner an?
Sie begann Kräuter zu sammeln.
Plötzlich beschlich sie ein ungutes Gefühl. Es gab gar keinen Grund dafür. Die große kreisrunde Wiese war nach wie vor menschenleer. Wolken veränderten das Licht, wenn ihre Schatten rasch über das Gras glitten. Ein verkrüppelter Weißdornbusch nahm die Gestalt einer gebückten alten Frau an, ein jäher Schrei – eine Elster – scheuchte kleinere Vögel auf.
Was auch immer es war, ihr war beklommen zumute, und sie kam sich in diesem flachen Gelände auf einmal viel zu auffällig vor. Sie war töricht gewesen. Die Pflanzen und die vermeintliche Einsamkeit der Bergkuppe hatten sie gelockt, sie war der plappernden Gesellschaft überdrüssig gewesen, von der sie seit Canterbury umgeben war. Deshalb hatte sie die Dummheit, die Tollheit begangen, allein loszuziehen, nachdem sie Mansur angewiesen hatte, zurückzubleiben und sich um den Prior zu kümmern. Ein Fehler. So war sie jedem Mann, der sich an ihrvergehen wollte, schutzlos ausgeliefert. Ohne die Begleitung von Margaret und Mansur hätte sie sich genauso gut ein Schild mit der Aufschrift
Vergewaltige mich
um
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