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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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bieten.«
    »Mylord.« Zum Zeichen der Dankbarkeit hob Simon die Hand an die Stirn. Und insgeheim dachte er: Genau das habe ich auch von dir erwartet.
    »Außerdem wäre es nicht ratsam, wenn Ihr Euren Glauben, oder das Fehlen desselben, kundtut«, fuhr der Prior fort.
    »Cambridge ist wie eine straff gespannte Armbrust, die bei der kleinsten Unregelmäßigkeit wieder losgehen könnte.« Zumal, so dachte er, diese drei besonderen Unregelmäßigkeiten vorhatten, in Cambridges Wunden zu stochern.
    Er verstummte. Der Steuereintreiber hatte zu ihnen aufgeschlossen, zügelte sein Pferd, bis es so gemächlich dahintrottete wie die Maultiere, verbeugte sich artig Richtung Prior, bedachte Simon und Mansur mit einem Nicken und sprach dann Adelia an: »Madam, wir sind die ganze Zeit zusammen auf dieser Reise, doch ohne einander vorgestellt worden zu sein. Sir Roland Picot, zu Ihren Diensten. Ich möchte Euch zur Heilung unseres guten Priors beglückwünschen.«
    Simon beugte sich rasch vor: »Die Glückwünsche gebühren diesem Herrn, Mylord.« Er deutete auf Mansur, der die Zügel in der Hand hielt. »Er ist unser Arzt.«
    Der Steuereintreiber horchte interessiert auf. »Tatsächlich?Mir wurde gesagt, man habe gehört, wie eine Frauenstimme bei der Operation die Anweisungen erteilte.«
    Ach, tatsächlich? Und von wem wohl, fragte sich Simon. Er stupste Mansur an.
    »Sag was«, befahl er auf Arabisch.
    Mansur reagierte nicht.
    Unauffällig trat Simon ihn gegen den Knöchel. »Sprich mit ihm, du grober Klotz.«
    »Und was soll ich dem fetten Arschloch sagen?«
    »Der Arzt ist froh, dass er dem ehrwürdigen Prior behilflich sein konnte«, erklärte Simon dem Steuereintreiber. »Er sagt, dass er hoffentlich jeden in Cambridge, der sich hilfesuchend an ihn wendet, ebenso erfolgreich behandeln kann.«
    »So, so«, sagte Sir Roland Picot und unterließ es, seine eigenen Arabischkenntnisse zu erwähnen. »Er hat eine erstaunlich helle Stimme.«
    »
Genau
, Sir Roland«, sagte Simon. »Seine Stimme könnte durchaus als Frauenstimme durchgehen.« Er wurde vertraulich. »Zur Erklärung: Master Mansur wurde als Kind von Mönchen aufgenommen, und weil sie seine Singstimme so schön fanden, haben sie … ähm, dafür gesorgt, dass sie es auch blieb.«
    »Ein
castrato
, bei Gott«, sagte Sir Roland mit großen Augen.
    »Heutzutage widmet er sich natürlich der Medizin«, sagte Simon, »doch wenn er dem Herrn ein Loblied singt, weinen die Engel vor Neid.«
    Mansur hatte das Wort »castrato« gehört und fing prompt an zu fluchen, was weitere Engelstränen fließen ließ, während er über die Christen im Allgemeinen und die ungesunde Zuneigung zwischen Kamelen und den Müttern der byzantinischen Mönche im Besonderen schimpfte, die ihn kastriert hatten. Er stieß die Laute mit einem arabischen Tremolo aus, das es mitVogelgezwitscher aufnehmen konnte und in der Luft zerschmolz wie süße Eiszapfen.
    »Hört Ihr, Sir Roland?«, fragte Simon, die Leute übertönend.
    »Gewiss war das die Stimme, die man vernommen hat.«
    Sir Roland sagte: »Offensichtlich.« Und dann noch einmal mit einem entschuldigenden Lächeln: »Offensichtlich.«
    Er versuchte weiter, Adelia in ein Gespräch zu verwickeln, doch sie antwortete einsilbig und mürrisch. Von aufdringlichen Engländern hatte sie genug. Ihre Aufmerksamkeit galt der Landschaft. Sie war Berge gewohnt und hatte erwartet, das flache Land würde sie langweilen. Aber sie hatte nicht mit dem hohen Himmel gerechnet oder mit der Bedeutung, die er einem einsamen Baum verlieh, der Krümmung eines vereinzelten Schornsteins oder Kirchturms, der sich dagegen abhob. Die zahllosen Grünschattierungen ließen vermuten, dass es unbekannte Kräuter zu entdecken gab, und die schmalen Felder malten Schachbretter aus Smaragdgrün und Schwarz.
    Und erst die Weidenbäume. Sie waren allgegenwärtig, säumten Bäche, Deiche und Straßen. Bruchweide, um Uferbänke zu stabilisieren, Bunte Weide, Silberweide, Grauweide, Salweide, Weiden, um daraus Knüppel zu machen oder Weidenruten, Lorbeerweide, Mandelweide, schön anzuschauen, wenn das Sonnenlicht durch die Zweige fiel, und noch schöner, weil sich mit einem Sud aus Weidenrinde Schmerzen lindern ließen … Sie fiel fast nach vorn, als Mansur die Maultiere ruckartig zügelte. Die Prozession war abrupt zum Stillstand gekommen, weil Prior Geoffrey eine Hand erhoben hatte und jetzt laut betete. Die Männer rissen sich die Mützen vom Kopf und hielten sie sich vor die

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