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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Gebeten und Gesängen und widmen sie dafür eher der Erziehung, der Hilfe für die Armen und Kranken, der Arbeit im Beichtstuhl und allgemeiner Seelsorge.« Er versuchte zu lächeln. »Das wird Euch gefallen, meine liebe Mistress Ärztin. Mäßigung in allen Dingen.«
    Jetzt beobachtete sie ihn, wie er die Eltern nach der Verabschiedung vom Chorraum nach draußen ins Sonnenlicht führte und ihnen versprach, dass er selbst die Trauergottesdienste leiten würde. »… und den Teufel aufspüren, der das getan hat.«
    »Wir wissen, wer es war, Prior«, sagte einer der Väter. Zustimmung ertönte wie das Knurren von Hunden.
    »Die Juden können es nicht gewesen sein, mein Sohn. Sie sind in der Burg noch immer in sicherem Gewahrsam.«
    »Irgendwie kommen sie aber raus.«
    Die Leichname unter den violetten Tüchern wurden ehrfürchtig auf Tragen durch eine Seitentür hinausgebracht, begleitet vom Vogt des Sheriffs, der seinen Leichenbeschauerhut aufgesetzt hatte.
    Die Kirche leerte sich. Simon und Mansur waren klugerweiseerst gar nicht gekommen. Ein Jude und ein Sarazene innerhalb dieser geweihten Mauern? Zu dieser Zeit?
    Die Ziegenledertasche zu ihren Füßen, wartete Adelia im Schatten einer der Nischen neben dem Grab von Paulus, Prior von St. Augustine in Barnwell, der im Jahre Unseres Herrn 1151 zu Gott gerufen worden war. Sie wappnete sich für das, was nun kommen würde.
    Sie hatte sich noch nie vor einer Leichenöffnung gedrückt, und sie würde sich auch vor dieser nicht drücken. Dafür war sie schließlich hier. Gordinus hatte gesagt: »Ich schicke dich mit Simon aus Neapel auf diese Mission, und zwar nicht nur, weil du die einzige Ärztin der Toten bist, die Englisch spricht, sondern weil du die Beste bist.«
    »Ich weiß«, hatte sie gesagt, »aber ich will nicht.«
    Doch sie hatte keine Wahl gehabt, da es sich um den ausdrücklichen Befehl des Königs von Sizilien gehandelt hatte.
    In der kühlen Steinhalle der Medizinschule von Salerno, wo die Leichen seziert wurden, hatte sie stets die erforderlichen Gerätschaften zur Verfügung gehabt, und Mansur hatte ihr assistiert. Ihr Ziehvater, der Leiter der Abteilung, hatte ihre Erkenntnisse dann an die Obrigkeit weitergegeben. Denn obwohl Adelia den Tod besser lesen konnte als ihr Ziehvater, besser als jeder andere, musste die Täuschung aufrechterhalten werden, dass Doktor Gerschom bin Aguilar die Untersuchungen der Leichen vornahm, die ihnen von der Stadtregierung, der
Signoria
, geschickt wurden. Selbst in Salerno, wo Medizinerinnen praktizieren durften, wurde das Sezieren, wodurch sich feststellen ließ, woran ein Mensch gestorben war – und oftmals auch durch wessen Hand –, von der Kirche mit Ablehnung betrachtet.
    Bislang hatte die Wissenschaft sich gegen die Religion durchgesetzt. Andere Ärzte wussten, wie nützlich Adelias Arbeit war,und bei der nicht kirchlichen Obrigkeit war sie ein offenes Geheimnis. Aber sollte je eine offizielle Beschwerde beim Papst eingehen, würde Adelia aus der Leichenhalle verbannt werden und höchstwahrscheinlich auch aus der Medizinschule. Daher strich Gerschom, selbst wenn ihm die Heuchelei zuwider war, die Lorbeeren ein, die ihm eigentlich gar nicht gebührten.
    Was Adelia allerdings nur recht war. Sich unauffällig im Hintergrund zu halten, kam ihr sehr entgegen; einerseits entging sie so den wachen Augen der Kirche, andererseits ersparte es ihr Situationen, in denen sie über weibliche Themen plaudern müsste, was sie nicht konnte und was sie langweilte. So stachelig wie ein Igel, der sich im Herbstlaub versteckt, reagierte sie, wenn jemand versuchte, sie ans Licht zu holen.
    Wenn jemand krank war, sah die Sache dagegen anders aus. Ehe sie sich der
Post-mortem
-Arbeit verschrieb, hatten die Kranken eine Seite an Adelia kennen gelernt, die nur wenige je zu Gesicht bekamen, und sie erinnerten sich ihrer noch immer als »Engel ohne Flügel«. Viele Patienten, die sie geheilt hatte, verliebten sich in sie, und der Prior hätte gestaunt, wenn er gewusst hätte, dass schon mehr Männer um ihre Hand angehalten hatten als um die so mancher reichen Schönheit in Salerno. Doch alle Bewerber waren abgewiesen worden. In der Leichenhalle der Schule hieß es, Adelia interessiere sich erst für jemanden, wenn er tot war.
    Aus ganz Süditalien und Sizilien landeten Leichen jeden Alters auf dem langen Marmortisch in der Schule. Sie wurden von
Signoria
und
Praetori
geschickt, wenn man über Todesart und Todesursache Gewissheit haben

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