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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Patienten«, sagte sie.
    »Das wundert mich nicht.«
    Und sie lachte.
    Bezaubernd, dachte der Prior bezaubert. Horaz fiel ihm ein:
Dulce ridentem Lalagen amabo
. Die lieblich lachende Lalage werde ich lieben. Aber das Lachen dieser jungen Frau widersprach dem streng tadelnden Ton, den sie zuvor angenommen hatte, und ließ sie schlagartig verletzlich und unschuldig wirken, so dass die jäh in ihm aufsteigende Zuneigung nicht einer Lalage galt, sondern einer Tochter. Ich muss sie beschützen, dachte er.
    Sie hielt ihm etwas hin. »Ich habe eine Diät für Euch aufgeschrieben.«
    »Papier, großer Gott«, sagte er. »Wie kommt Ihr denn an Papier?«
    »Die Araber stellen es her.«
    Er schaute auf die Liste. Ihre Schrift war scheußlich, aber er konnte sie mit Müh und Not entziffern. »Wasser? Abgekochtes Wasser? Acht Becher am Tag? Madam, wollt Ihr mich umbringen? Schon der Dichter Horaz hat gesagt, dass Wassertrinker nichts Rechtes zustande bringen.«
    »Haltet Euch an Martial«, sagte sie, »der hat länger gelebt.
Non est vivere, sed valere vita est
. Leben heißt nicht bloß leben, sondern gut leben.«
    Er schüttelte staunend den Kopf. Demütig sagte er: »Ich bitte Euch, nennt mir Euren Namen.«
    »Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar«, antwortete Adelia.
    »Oder, wenn Euch das lieber ist, Dr. Trotula, ein Titel, der den weiblichen Professoren an der Schule verliehen wird.«
    Es war ihm nicht lieber. »Vesuvia? Ein hübscher Name, sehr ungewöhnlich.«
    »Adelia«, sagte sie. »Ich bin bloß auf dem Vesuv gefunden worden.« Sie streckte die Hand aus, als wollte sie die seine ergreifen. Ihm stockte der Atem.
    Doch sie nahm sein Handgelenk, legte den Daumen obendrauf und die übrigen Finger auf die weiche Unterseite. Ihre Fingernägel war kurz und so sauber wie alles an ihr. »Ich wurde als Säugling auf dem Berg ausgesetzt. In einem Krug.« Sie sprach geistesabwesend, und er merkte, dass sie ihm eigentlich nichts mitteilen, sondern ihn nur ruhig halten wollte, während sie seinen Puls fühlte. »Die beiden Ärzte, die mich fanden und aufzogen, dachten, ich wäre möglicherweise Griechin, weil das Aussetzen ungewollter Töchter bei den Griechen verbreitet war.«
    Sie ließ sein Handgelenk los und schüttelte den Kopf. »Zu schnell«, sagte sie. »Wirklich, Ihr solltet abnehmen.«
    Er muss erhalten bleiben, dachte sie. Sein Tod wäre ein wahrer Verlust.
    Eine Eigentümlichkeit jagte die nächste, und dem Prior drehte sich schon der Kopf. Der Herr mochte ja Menschen niederer Herkunft erhöhen, wenn es Ihm gefiel, doch es war nun wirklich nicht nötig, dass sie aller Welt von ihren unwürdigen Anfängen erzählte. Meine Güte, meine Güte. Ohne ihre vertrauteUmgebung wäre sie so schutzlos wie eine Schnecke ohne Haus. Er fragte: »Ihr wurdet von zwei Männern großgezogen?«
    Sie war entrüstet, als hätte er unterstellt, dass sie irgendwie abnorm erzogen worden wäre. »Von einer Frau und einem Mann, und sie waren verheiratet«, sagte sie stirnrunzelnd. »Meine Pflegemutter ist auch eine Trotula. Eine als Christin geborene Frau aus Salerno.«
    »Und Euer Pflegevater?«
    »Ein Jude.«
    Schon wieder. Mussten diese Leute es denn in die Welt hinausposaunen? »Dann wurdet Ihr in seinem Glauben erzogen?« Das war ihm wichtig. Sie war eine Fackel,
seine
Fackel, eine ungemein kostbare Fackel, die vor dem Verbrennen errettet werden musste.
    Sie sagte: »Ich glaube an nichts, was nicht bewiesen werden kann.«
    Er war entsetzt: »Glaubt Ihr denn nicht an die Schöpfung? An Gottes Plan?«
    »Eine Schöpfung hat es gegeben, gewiss. Ob es einen Plan gab, weiß ich nicht.«
    Mein Gott, mein Gott, dachte er, triff sie nicht mit Deinem Zorn. Ich brauche sie. Sie weiß nicht, was sie sagt.
    Sie erhob sich. Ihr Eunuch hatte den Wagen für die Fahrt hinunter zur Straße bereit gemacht. Simon kam auf sie zu.
    Da selbst Apostaten bezahlt werden mussten und er gerade diese hier aus tiefstem Herzen bemitleidete, sagte der Prior: »Mistress Adelia, ich stehe in Eurer Schuld und möchte meine Seite der Waage beschweren. Bittet um etwas, und mit Gottes Gnade werde ich es gewähren.«
    Sie wandte sich um und betrachtete ihn nachdenklich. Sie sah die freundlichen Augen, den klugen Verstand, die Güte; sie mochte ihn. Aber ihr berufliches Interesse galt allein seinemKörper – noch war es nicht so weit, aber eines Tages. Die Drüse, die die Blase eingeengt hatte, wiege sie ab, vergleiche sie …
    Simon fiel in Laufschritt. Er kannte diesen Blick

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