Die Totenleserin1
blieb sie eine Frau und, armes Ding, so schmucklos wie ihre Sprache. Eine Frau, die unbemerkt in der Menge untergehen würde, eine Frau für den Hintergrund, eine Maus unter Mäusen. Jetzt, da er seine volle Aufmerksamkeit auf sie richtete, empfand Prior Geoffrey fast ein wenig Ärger, dass dem so war. Es gab keinen Grund für diese Unscheinbarkeit.Ihre Gesichtszüge waren zart und ebenmäßig, ebenso wie das, was er unter dem weiten Umhang von ihrem Körper erahnen konnte. Die Haut war rein und hatte diese leicht dunkle, samtige Tönung, die man manchmal in Norditalien und Griechenland fand. Weiße Zähne. Unter der Kappe, mit der gerollten Krempe, die sie bis zu den Ohren heruntergezogen hatte, steckten vermutlich Haare. Wie alt war sie? Noch jung.
Die Sonne beschien ein Gesicht, das sich statt für Liebreiz für Intelligenz entschieden hatte, dessen Aufgewecktheit jede Spur von Weiblichkeit überdeckte. Es war so rein gescheuert wie ein Waschbrett, und obwohl der Prior ansonsten strikt gegen Farbe an Frauen war, empfand er bei seinem Gegenüber das völlige Fehlen jeglicher Zierde schon fast als Affront. Noch Jungfrau, darauf würde er schwören.
Adelia sah einen allzu wohlgenährten Mann vor sich, wie das so viele klösterliche Würdenträger waren, obwohl in seinem Fall die Gefräßigkeit nicht darauf zurückzuführen war, dass er mit der Lust auf Essen den Verzicht auf Geschlechtlichkeit ausglich. Sie fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft. Frauen waren natürliche Wesen für ihn, das hatte sie gleich gemerkt, weil es so selten war, keine Harpyien, keine Verführerinnen. Fleischliches Begehren wurde anerkannt, aber beherrscht, jedoch nicht durch Selbstzüchtigung. Die freundlichen Augen ließen erkennen, dass dieser Mann im Einklang mit sich selbst lebte, dass sich in ihm Weltlichkeit und Güte zu einer behaglichen – allzu behaglichen – Lebensführung vereinten. Ein Mann, der kleine Sünden verzieh, auch seine eigenen. Er fand sie seltsam, natürlich, wie jeder, sobald er sie zur Kenntnis genommen hatte.
Doch so liebenswert er auch war, sie wurde allmählich ungehalten. Sie hatte seinetwegen die ganze Nacht kein Auge zugetan, jetzt konnte er wenigstens ihre Ratschläge befolgen.
»Hört Ihr mir nicht richtig zu, Mylord?«
»Ich bitte um Vergebung, Madam.« Er setzte sich aufrechter hin.
»Ich sagte gerade, dass ich Euch zeigen kann, wie man einen
catheter
verwendet. Das Verfahren ist nicht schwer, wenn man weiß, wie es geht.«
Er sagte: »Ich denke, Madam, wir sollten abwarten, bis sich die Notwendigkeit ergibt.«
»Also schön.« Es lag bei ihm. »Außerdem seid Ihr zu schwer. Ihr müsst Euch mehr bewegen und weniger essen.«
Gekränkt sagte er: »Ich jage einmal die Woche.«
»Zu Pferd. Folgt den Hunden von nun an zu Fuß.« Anmaßend, dachte Prior Geoffrey. Und sie kommt aus Sizilien? Seine Erfahrung mit sizilianischen Frauen – sie war kurz, aber unvergesslich gewesen – beschwor Erinnerungen an die Verlockungen Arabiens herauf; dunkle Augen, die ihn über einen Schleier hinweg anlächelten, die Liebkosung eines mit Henna gefärbten Fingers, Worte so weich wie die Haut, der Duft von …
Zum Donnerwetter, dachte Adelia, warum ist ihnen Flitterkram nur so wichtig? »Dafür ist mir meine Zeit zu schade«, sagte sie schneidend.
»Hä?«
Sie seufzte ungeduldig. »Wie ich sehe, findet Ihr es bedauerlich, dass die Frau ebenso schmucklos ist wie die Ärztin. Es ist doch immer dasselbe.« Sie funkelte ihn zornig an. »Master Prior, Ihr bekommt von beiden reinen Wein eingeschenkt. Wenn Ihr sie herausgeputzt haben wollt, dann wendet Euch an andere. Dreht diesen Stein um«, sie deutete auf einen Schieferbrocken in der Nähe, »und Ihr werdet einen Scharlatan finden, der Euch mit der günstigsten Konjunktion von Merkur und Venus blendet, Eure Zukunft in den leuchtendsten Farben malt und Euch für ein Goldstück gefärbtes Wasser verkauft.Dafür ist mir meine Zeit zu schade. Von mir hört Ihr die Wahrheit.«
Er war verblüfft. Aus dieser Frau sprach das Selbstbewusstsein, sogar der Hochmut eines erfahrenen Handwerkers. Sie hätte ein Schmied sein können, den er gebeten hatte, ein geplatztes Rohr zu flicken.
Nur dass sie, so rief er sich in Erinnerung, im Gegenteil dafür gesorgt hatte, dass gerade bei ihm etwas nicht platzte. Dennoch, auch Sachlichkeit stand ein wenig Ausschmückung gut zu Gesicht. »Seid Ihr bei all Euren Patienten so unverblümt?«, fragte er.
»Normalerweise habe ich keine
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