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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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wollte. Meist konnte Adelia helfen; Leichen waren ihr Metier und für sie so normal wie für den Schuster der Leisten. Bei den Leichen von Kindern ließ sie sich ebenfalls von dem festen Vorsatz leiten, dass die wahre Todesursache nicht gemeinsam mit ihnen beerdigt werdensollte, aber es quälte sie jedesmal; stets empfand sie Mitleid, und wenn sich herausstellte, dass ein Kind ermordet worden war, Entsetzen. Die drei, die jetzt ihrer harrten, waren vermutlich in einem schrecklicheren Zustand als die meisten, die sie gesehen hatte. Und damit nicht genug. Sie musste sie noch dazu heimlich untersuchen, ohne die Geräte, die ihr ansonsten zur Verfügung standen, ohne Mansurs Hilfe und vor allem ohne die Ermutigung ihres Ziehvaters: »Adelia, du darfst nicht verzagen! Du vereitelst die Unmenschlichkeit.«
    Er hatte nie gesagt, dass sie das Böse vereitle, zumindest nicht das Böse im teuflischen Sinne, denn Gerschom bin Aguilar war davon überzeugt, dass der Mensch für sein eigenes Böses und Gutes selbst verantwortlich war, nicht Gott oder der Teufel. Nur in der Medizinschule von Salerno konnte er diese Ansicht verbreiten und selbst dort nicht allzu laut.
    Das Zugeständnis, dass sie diese besondere Untersuchung hier in einem rückständigen englischen Städtchen durchführen durfte, wo sie dafür gesteinigt werden könnte, war an sich schon ein Wunder, und Simon aus Neapel hatte hart dafür kämpfen müssen. Nur widerstrebend hatte der Prior die Erlaubnis erteilt, entsetzt, dass eine Frau gewillt war, eine derartige Arbeit zu verrichten, und voller Furcht vor den möglichen Folgen, wenn herauskäme, dass eine Fremde die armen Kinderleichen betrachtet und betastet hatte. »Cambridge würde es als Entweihung betrachten. Und ich bin nicht sicher, ob es das nicht auch ist.«
    Simon hatte gesagt: »Mylord, lasst uns herausfinden, wie die Kinder gestorben sind, denn es steht außer Frage, dass die festgesetzten Juden nichts damit zu tun haben können. Wir sind moderne Menschen, wir wissen, dass aus menschlichen Schultern keine Flügel sprießen. Irgendwo läuft ein Mörder frei herum. Erlaubt, dass diese traurigen kleinen Leiber uns verraten,wer er ist. Die Toten verraten Dr. Trotula ihre Geheimnisse. Das ist ihre Arbeit. Sie werden zu ihr sprechen.«
    Was Prior Geoffrey betraf, so fielen sprechende Tote in dieselbe Kategorie wie geflügelte Menschen. »Es ist gegen die Lehre unserer Mutter Kirche, die Heiligkeit des Leibes zu verletzen.«
    Er gab erst nach, als Simon ihm versprach, dass die Toten nicht seziert, sondern nur untersucht werden würden.
    Simon beschlich der Verdacht, dass der Prior sich nicht allein deshalb hatte umstimmen lassen, weil er plötzlich von der Mitteilsamkeit der Leichen überzeugt war, sondern vor allem weil er fürchtete, Adelia würde im Falle seiner Weigerung dahin zurückkehren, wo sie hergekommen war, und ihm bei seiner nächsten Blasenattacke nicht beistehen können.
    So kam es, dass sie sich hier, in einem Land, in das sie eigentlich gar nicht hatte reisen wollen, mit der schlimmsten Unmenschlichkeit befassen musste, und das ganz allein. »Aber gerade das ist doch deine Aufgabe, Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar«, sagte sie sich. In Augenblicken der Unsicherheit zählte sie gerne die Namen auf, mit denen sie von dem Paar, das sie einst aus ihrer mit Lava bedeckten Wiege auf dem Vesuv gehoben und mit nach Hause genommen hatte, genauso verschwenderisch bedacht worden war wie mit der Bildung und den höchst eigentümlichen Ideen, die sie ihr mit auf den Weg gaben. »Nur du bist in der Lage dazu, also
tu
es.«
    In der Hand hielt sie eines der drei Objekte, die auf den toten Kindern gefunden worden waren. Eines war bereits dem Sheriff übergeben worden, eines hatte ein tobender Vater in Stücke gerissen. Das dritte hatte der Prior an sich genommen und es ihr heimlich zugesteckt.
    Vorsichtig, um kein Aufsehen zu erregen, hielt sie es in einen Lichtstrahl. Es war ein aus Binsen geflochtener Stern mit fünfZacken, schön und kunstvoll. Nicht sechs Zacken wie bei einem Davidstern. Eine Botschaft? Ein Versuch, die Juden zu belasten, aber von jemandem, der sich nur unzureichend mit dem Judentum auskannte? Eine Signatur?
    In Salerno, so dachte sie, wäre es möglich gewesen, die wenigen Menschen ausfindig zu machen, die überhaupt die Fertigkeit besaßen, so etwas herzustellen, doch hier in Cambridge, wo Binsen an allen Flüssen und Bächen wuchsen, gab es in jedem Haus geschickte Flechter. Schon

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