Die Totenleserin1
Gambe drangen, und an anderen, die geschlossen waren und hinter denen nach der Vorstellung des alten Mannes gottlose Dinge geschahen.
Burgdiener, die nicht schnell genug auswichen, wurden rüde beiseite gestoßen, und so zogen die beiden Männer in ihrer Hast eine Spur von zu Boden gefallenen Tabletts, umgekippten Nachttöpfen und unterdrückten Schmerzensschreien hinter sich her.
Eine letzte Wendeltreppe, und sie gelangten auf eine lange Galeriemit einer Reihe von Schreibtischen an der Wand und einem wuchtigen Tisch in der Mitte. Die mit grünem Filz ähnlichem Stoff bezogene Tischplatte war in Quadrate eingeteilt, auf denen unterschiedlich große Häufchen von Zählperlen lagen. Dreißig oder noch mehr Schreiber erfüllten den Raum mit dem Kratzen von Federn auf Papier. Bunte Kugeln flirrten und klickten auf den Drähten ihrer Abakusse hin und her, so dass es sich anhörte wie auf einem Feld mit emsigen Grillen.
Der einzige untätige Mensch im ganzen Raum war ein Mann, der auf einer Fensterbank saß.
»Aaron aus Lincoln, Mylord«, verkündete der Hofmeister.
Aaron aus Lincoln sank auf ein schmerzendes Knie und berührte die Stirn mit den Fingern der rechten Hand, die er sodann mit der Handfläche nach oben ausstreckte, um dem Mann auf der Fensterbank seine Ehrerbietung zu zeigen.
»Wisst Ihr, was das da ist?«
Aaron blickte unbeholfen nach hinten auf den riesigen Tisch, antwortete aber nicht. Er wusste, was es war, doch die Frage des Königs war rein rhetorisch gewesen.
»Jedenfalls kein Spieltisch, so viel steht fest«, sagte Henry II. »Das ist meine Staatskasse. Die Quadrate verkörpern meine englischen Countys, und die Zählperlen darauf zeigen, wie viel Abgaben sie an das königliche Schatzamt zahlen müssen. Steht auf.«
Er zog den alten Mann hoch, führte ihn zum Tisch und zeigte auf eines der Quadrate. »Das ist Cambridgeshire.« Er ließ Aaron los. »Unter Einsatz Eures beträchtlichen finanziellen Sachverstandes, Aaron, was schätzt Ihr, wie viele Perlen liegen da wohl?«
»Nicht genug, Mylord?«
»Wahrhaftig nicht«, sagte Henry. »Cambridge ist ein einträgliches County – normalerweise. Ein bisschen flach, aber esbringt stattliche Mengen an Korn und Vieh hervor und zahlt pünktlich an das Schatzamt – normalerweise. Auch seine große jüdische Bevölkerung zahlt pünktlich an das Schatzamt – normalerweise. Würdet Ihr sagen, dass die Anzahl der Zählperlen, die im Augenblick da liegen, keine wahrheitsgetreue Darstellung seines Wohlstands ist?«
Wieder gab der alte Mann keine Antwort.
»Und warum ist das so?«, fragte Henry.
Aaron sagte matt: »Ich denke mir, wegen der Kinder, Mylord. Der Tod von Kindern ist immer bedauerlich …«
»Fürwahr.« Henry hievte sich auf die Tischkante und ließ die Beine baumeln. »Und wenn er sich noch dazu auf die Wirtschaft auswirkt, dann ist er eine Katastrophe. Die Bauern von Cambridge sind im Aufstand, und die Juden sind … wo sind sie?«
»Sie haben in der dortigen Burg Zuflucht gesucht, Mylord.«
»In dem, was davon übrig ist«, bestätigte Henry. »Ja, das haben sie, wahrhaftig. In
meiner
Burg. Wo sie von
meiner
Mildtätigkeit leben,
mein
Essen essen und es gleich an Ort und Stelle wieder ausscheißen, weil sie Angst haben, die Burg zu verlassen. Und das alles bedeutet, dass sie mir kein Geld einbringen, Aaron.«
»Nein, Mylord.«
»Und die aufgebrachten Bauern haben den Ostturm niedergebrannt, in dem sich das Verzeichnis
sämtlicher
Schulden an die Juden und damit an
mich
befindet – ganz zu schweigen von den Steuerverzeichnissen –, weil sie glauben, dass die Juden ihre Kinder quälen und töten.«
Zum ersten Mal ertönte zwischen den Hinrichtungstrommeln im Kopf des Alten eine Pfeife der Hoffnung. »Aber Ihr nicht, Mylord?«
»Was nicht?«
»Glaubt Ihr nicht, dass die Juden die Kinder töten?«
»Ich weiß es nicht, Aaron«, sagte der König leichthin. Ohne den alten Mann aus den Augen zu lassen, hob er eine Hand. Ein Schreiber kam angelaufen und schob ein Stück Pergament hinein. »Hier habe ich einen Bericht von einem gewissen Roger aus Acton. Darin heißt es, dass das ein regelmäßiger Brauch bei euch ist. Laut dem wackeren Roger foltern die Juden zu Ostern mindestens ein Christenkind zu Tode, indem sie es in ein Fass stecken, das innen mit Nägeln gespickt ist. Das haben sie schon immer getan und werden es auch weiterhin tun.«
Er blickte kurz auf das Pergament. »›Sie stecken das Kind in das Fass und schließen den
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