Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
1
An was ich mich erinnere, als ich den Mann das erste Mal wahrnahm, war ein stetiges, metallenes Geräusch.
Es war an einem Samstagmorgen. Ich saß in einem der Biergärten am Münsterplatz und berauschte mich am Treiben des Wochenmarktes.
Die Händler standen mit dem Rücken zur Gastronomie, sodass sich die Gäste der Wirtschaften und Cafés, die sich um das gesamte Münster drapierten, als Zuschauer hinter den Kulissen fühlen konnten. Meine Augen waren durch das Gewimmel ermüdet, und ich gönnte ihnen eine Erholung, indem ich hoch oben die mit pittoresken Wasserspeiern versehenen Kapitelle des Münsters entlangglitt.
»Tack-Tack, Tack-Tack«, machte es. Ich drehte mich nach dem Geräusch um.
Ein Wesen, das ich im Gegenlicht nur an seinem Gang auf zwei Beinen als Mensch identifizieren konnte, zog einen Handwagen über das Pflaster. Die eisenbereiften Räder verursachten dieses »Tack«, wenn sie von der Kuppe eines der groben Pflastersteine in das Tal der Fuge rollten, um den nächsten Stein zu erklimmen.
Damit war die Neugier meines Gehörs nach der Lokalisierung des Geräusches befriedigt, und ich wandte mich wieder dem Markttreiben zu.
Es vergingen ein paar Tage, bis ich dieses »Wesen« erneut zur Kenntnis nahm. Dieses Mal unter höchst merkwürdigen Umständen.
Das Wetter war nicht dazu angetan, sich länger als nötig im Freien aufzuhalten. Ich hatte beschlossen, mir die geschichtsträchtigen Bauten der Stadt von innen anzuschauen.
Als ich aus dem historischen Kaufhaus trat, bemerkte ich beiläufig, dass ein Leiterwagen unter den Arkaden geparkt war. Ein großer schwarzer Hund von undefinierbarer Rasse bewachte den Inhalt, der bei oberflächlicher Betrachtung wie ein Sammelsurium von Mülltüten aussah. Ein blondes Mädchen von etwa zwölf Jahren kniete neben dem Hund und kraulte sein ungepflegtes Fell. Mehr nahm ich nicht zur Kenntnis.
Da ich keinen Regenschirm hatte, beeilte ich mich, den Münsterplatz, auf dem die Händler frierend auf Kundschaft warteten, zu überqueren.
Ich betrat das Münster durch das Südportal, das als Pforte in einer mit Kupferornamenten beschlagenen Flügeltür eingelassen war. Sozusagen als Tür in der Tür.
Ohne Sonne schluckten die bunten Kirchenfenster das draußen ohnehin nur spärlich vorhandene Licht. Das im romanischen Baustil gehaltene Kirchenschiff ließ die Stimmung aufkommen, die Jonas im Bauch des Wals gehabt haben musste. Einziger Trost und Lichtblick waren das Ewige Licht am Hochaltar und die Kerzen, die im Seitenschiff auf einer Lichterbank flackerten.
Majestätisch schimmerten die Pfeifen der Orgel von der Empore und zogen mich magisch an.
Nachdem ich mich über ausgetretene Stufen hinaufgetastet hatte, sah ich einen Mann im Licht einer Leselampe über den Spieltisch gebeugt, der etwas schrieb.
»Hallo?«, machte ich mich bemerkbar.
Er wandte sich mir zu und fixierte mich über die von einer Adlernase gehaltene Lesebrille.
»Spielen Sie Orgel?«, wollte er wissen und schob den Bleistift in sein weißes Haarbüschel, unter dem die Ohren verborgen waren.
»Nein.«
»Was wollen Sie dann hier? Sie haben hier nichts zu suchen.«
Ich trat näher und sah, dass er etwas an einer vorgefertigten Partitur änderte.
»Ich interessiere mich für die Technik der Orgel«, log ich.
Er zog die Augenbrauen hoch. »Spielen Sie ein Instrument?«
»Etwas Gitarre«, gab ich in Erinnerung an meine wilde Studienzeit vor.
»Spielen«, lächelte er verächtlich. »Haben Sie sich jemals dafür interessiert, wie eine Gitarre entsteht?«
Ich verneinte.
»Also, was wollen Sie dann mit dem Wissen um das komplizierteste Musikinstrument der Menschheit anfangen?«
Seine provokante Art reizte mich, und ich stellte mich als Journalist vor, der sich seine Aufträge nicht aussuchen konnte.
»Aha. Und da lässt man Sie auf Deutschlands Orgeln los. Ein Grund mehr, keine Zeitung zu lesen.«
Amüsiert und vielleicht auch geschmeichelt stellte er sich als Professor an der hiesigen Musikhochschule vor.
»Na dann passen Sie mal schön auf. Das Grundprinzip der Orgel ist ...«
Er gab mir einen Exkurs über die Bauart der Orgel, dass mir schwindelig wurde. Manuale, Register, Traktur, Magazinbalg, Lippenpfeifen, Zungenpfeifen.
Alle Funktionen verdeutlichte er durch das Anspielen mir wenig oder gar nicht bekannter Stücke berühmter Komponisten. Was ich behielt, war, dass diese Orgel mit mehr als siebzig Registern und fünftausend Pfeifen zu den größeren ihrer Art gehörte
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