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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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auf dem Weg hierher hatte sie vor den Türen von etlichen Häusern Frauen sitzen sehen, die eifrig damit beschäftigt waren, Matten und Körbe herzustellen, regelrechte Kunstwerke, während die Männer die Dächer, die sie mit Binsen deckten, geradezu in Skulpturen verwandelten. Nein, der Stern in ihrer Hand verriet ihr im Augenblick noch nichts.
    Prior Geoffrey kam zurückgeeilt. »Der Leichenbeschauer hat sich die Kinder angesehen und eine öffentliche Untersuchung angeordnet …«
    »Was hat er gesagt?«
    »Er hat sie für tot erklärt.« Adelia blinzelte, und der Prior sagte:
    »Ja, ja, aber das ist nun einmal Vorschrift. Leichenbeschauer werden nicht aufgrund ihrer medizinischen Kenntnisse ausgewählt. Nun denn, ich habe die sterblichen Überreste in die Klause St. Werbertha bringen lassen. Dort ist es ruhig und kalt, vielleicht ein wenig dunkel für Eure Zwecke, aber ich habe für Lampen gesorgt. Selbstverständlich wird es eine Totenwache geben, doch die beginnt erst, wenn Ihr Eure Untersuchung abgeschlossen habt. Offiziell seid Ihr dort, um die Aufbahrung vorzunehmen.«
    Wieder ein Blinzeln.
    »Ja, ja, die Leute werden sich wundern, aber ich bin hier der Prior, und über meinem Gesetz steht nur noch das vom allmächtigenHerrgott.« Er bugsierte sie zur Seitentür der Kirche und beschrieb ihr den Weg. Ein Novize, der im Klostergarten Unkraut jätete, blickte neugierig auf, doch ein Fingerschnippen seines Oberen genügte, und er widmete sich wieder seiner Arbeit. »Ich würde ja mit Euch kommen, doch ich muss zur Burg und mit dem Sheriff die prekäre Lage besprechen. Unter uns gesagt, wir müssen einen erneuten Aufstand verhindern.«
    Der Prior blickte der kleinen, braun gekleideten Gestalt nach, die mit ihrer Ziegenledertasche davontrottete, und betete, dass in diesem Fall sein Gesetz und das des allmächtigen Herrgotts übereinstimmten.
    Er wandte sich ab, um ein kurzes Gebet vor dem Altar zu sprechen, doch da löste sich ein großer Schatten von einem der Pfeiler im Kirchenschiff. Der Prior erschrak, und Wut stieg in ihm hoch. Der Schatten hielt eine Pergamentrolle in der Hand.
    »Was macht Ihr hier, Sir Roland?«
    »Ich wollte Euch bitten, mir die Leichen anschauen zu dürfen, Mylord«, sagte der Steuereintreiber, »aber da ist mir anscheinend schon jemand zuvorgekommen.«
    »Das ist Aufgabe des Leichenbeschauers, und der hat seine Arbeit bereits getan. In ein oder zwei Tagen wird es eine offizielle Untersuchung geben.«
    Sir Roland deutete mit dem Kinn Richtung Seitentür. »Und doch hörte ich, wie Ihr diese Dame angewiesen habt, die Körper noch einmal zu examinieren. Hofft Ihr darauf, dass sie Euch mehr sagen kann?«
    Prior Geoffrey schaute sich hilfesuchend um, fand aber keine. Der Steuereintreiber fragte mit offenbar echtem Interesse:
    »Wie mag sie das wohl anstellen? Beschwörungen? Anrufungen? Ist sie eine Totenbeschwörerin? Eine Hexe?«
    Er war zu weit gegangen.
    Der Prior sagte leise: »Diese Kinder sind mir heilig, mein Sohn, ebenso wie diese Kirche. Ihr dürft gehen.«
    »Ich bitte um Verzeihung, Mylord.« Der Steuereintreiber sah keineswegs zerknirscht aus. »Aber diese Angelegenheit geht auch mich etwas an, und ich habe hier die Vollmacht des Königs, ihr weiter nachzugehen.« Er schwenkte die Rolle so, dass das königliche Siegel hin und her baumelte. »Was macht diese Frau?«
    Eine königliche Vollmacht übertrumpfte die Autorität eines Stiftspriors, selbst wenn dessen Wort dem Wort Gottes nahe kam.
    Griesgrämig sagte Prior Geoffrey: »Sie ist eine Ärztin, die sich in der Wissenschaft des Todes auskennt.«
    »Natürlich!
Salerno
. Ich hätte es mir denken können.« Der Steuereintreiber stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Ein weiblicher Arzt vom einzigen Ort der Christenheit, wo so etwas nicht ein Widerspruch in sich selbst ist.«
    »Ihr kennt Salerno?«
    »Ich war einmal dort.«
    »Sir Roland.« Der Prior hob beschwörend eine Hand. »Im Interesse der Sicherheit der jungen Frau, im Interesse des Friedens in dieser Gemeinde und der Stadt muss das, was ich Euch erzählt habe, unter uns bleiben.«
    »
Vir sapit qui pauca loquitur
, Mylord. Das Erste, was ein Steuereintreiber zu lernen hat.«
    Er ist zwar nicht unbedingt klug, eher durchtrieben, befand der Prior, aber wahrscheinlich imstande, den Mund zu halten. Was hatte der Mann vor? Einer plötzlichen Eingebung folgend, streckte er die Hand aus. »Zeigt mir die Vollmacht.« Er las sie durch und gab sie zurück. »Das ist lediglich

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