Die Totenleserin1
Picot, den der Prior …«
»Interessiert mich nicht, wer Ihr seid«, fauchte die Motte. »Kommt her und haltet die Fliegen fern.«
Sie kam heraus, und er sah sich einer beschürzten Menschengestalt mit Insektenkopf gegenüber. Sie riss ein Büschel Wiesenkerbel aus der Erde und hielt ihm die Dolden hin, als er näher kam.
Das war nicht Sir Rolands Ansinnen gewesen, dennoch folgte er ihr, zwängte sich mit einigen Schwierigkeiten durch die Bienenkorbtür.
Und zwängte sich sogleich wieder nach draußen. »Großer Gott.«
»Was ist
los
?« Sie war gereizt, nervös.
Er lehnte sich gegen den Türbogen und holte tief Luft. »Barmherziger,erbarme Dich unser.« Der Gestank war grauenhaft. Noch schlimmer als das, was da unverhüllt auf dem Tisch lag. Sie schnalzte verärgert mit der Zunge. »Dann bleibt meinetwegen in der Tür stehen. Könnt Ihr schreiben?«
Sir Roland nickte mit geschlossenen Augen. »Das ist das Erste, was ein Steuereintreiber lernt.«
Sie reichte ihm eine Schiefertafel und Kreide. »Notiert, was ich Euch sage. Und wedelt zwischendurch die Fliegen weg.«
Der Zorn in ihrer Stimme verschwand, und sie begann mit monotonem Tonfall zu sprechen. »Die sterblichen Überreste eines kleinen Mädchens. Am Schädel sind noch einige Haare. Demnach ist sie …«, sie unterbrach kurz und schaute auf einer Liste nach, die sie sich auf den Handrücken geschrieben hatte, »… Mary. Tochter eines Vogeljägers. Sechs Jahre alt. Verschwand am Tag von St. Ambrose, also vor etwa einem Jahr. Schreibt Ihr mit?«
»Ja, Madam.« Die Kreide quietschte auf der Tafel, doch Sir Roland hielt das Gesicht der frischen Luft zugewandt.
»Die Knochen sind frei gelegt. Das Fleisch ist fast vollständig verwest; das noch vorhandene hatte Berührung mit Kreide. An der Wirbelsäule befindet sich eine dünne Schicht feiner Sand, der aussieht wie getrockneter Schwemmsand, desgleichen hinten am Becken. Gibt’s hier irgendwo sumpfige Gebiete?«
»Wir befinden uns hier am Rand des Marschlandes, und dort wurden sie auch gefunden.«
»Lagen die Leichen mit dem Gesicht nach oben?«
»Himmel, das weiß ich nicht.«
»Hmm, wenn ja, würde das die Spuren auf dem Rücken erklären. Sie sind leicht; Mary wurde nicht in Schwemmsandboden vergraben, eher in Kreideboden. Hände und Füße mit Streifen aus schwarzem Material gefesselt.« Sie schwieg kurz. Dann: »In meiner Tasche ist eine Pinzette. Gebt sie mir.«
Er kramte in der Tasche herum, reichte ihr eine dünne Holzpinzette und sah zu, wie sie damit einen Streifen von irgendwas löste und ins Licht hielt.
»Heilige Muttergottes.« Er drehte sich wieder zur Tür um und streckte einen Arm nach hinten, um weiter mit dem Wiesenkerbel herumzuwedeln. Irgendwo im Wald rief ein Kuckuck, passend zu dem warmen Tag und dem Duft der Glockenblumen zwischen den Bäumen. Willkommen, dachte Sir Roland, o Gott, willkommen. Du bist dieses Jahr spät dran.
»Wedelt schneller«, befahl sie barsch, dann verfiel sie wieder in ihre monotone Vortragsstimme. »Die Fesseln sind Wollstreifen. Mmm. Reicht mir ein Fläschchen. Schnell. Wo bleibt Ihr denn, zum Donnerwetter?« Er holte ein Fläschchen aus der Tasche, reichte es ihr, wartete und nahm es wieder entgegen, jetzt mit einem grässlichen Streifenstück darin. »Im Haar sind Kreidebröckchen. Außerdem hat sich ein Objekt darin verfangen. Hmm. Rautenförmig, möglicherweise eine Art klebriges Bonbon, das an den Strähnen getrocknet ist. Das muss genauer untersucht werden. Reicht mir noch ein Fläschchen.«
Dann wies sie ihn an, beide Fläschchen mit rotem Ton aus ihrer Tasche zu verschließen. »Rot für Mary, für die beiden anderen jeweils eine andere Farbe. Achtet bitte darauf.«
»Ja, Doktor.«
Normalerweise begab sich Prior Geoffrey mit großem Prunk zur Burg, und Sheriff Baldwin erwiderte seine Besuche ähnlich prunkvoll; eine Stadt sollte sich immer bewusst sein, wer ihre zwei wichtigsten Männer sind. Heute jedoch zeugte die Tatsache, dass der Prior auf Trompeter und Gefolge verzichtete und nur in Begleitung von Bruder Ninian über die Große Brücke zur Burg hinaufritt, von seiner sorgenvollen Seelenlage.
Viele Leute liefen neben ihm her, klebten förmlich an seinen Steigbügeln. All ihre Fragen beantwortete er abschlägig. Nein, es waren nicht die Juden. Wie denn auch? Nein, bleibt ruhig. Nein, der Unhold war noch nicht gefasst, aber er würde dingfest gemacht werden, so Gott wollte. Nein, lasst die Juden in Ruhe, sie haben nichts mit der
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