Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
Vom Netzwerk:
die übliche Vollmacht für einen Steuereintreiber. Will der König jetzt die Toten besteuern?«
    »Natürlich nicht, Mylord.« Sir Roland schien fast beleidigt. »Oder nicht mehr als sonst. Aber wenn die Dame eine inoffizielle Untersuchung durchführen soll, könnte das für die Stadt und die Priorei Strafabgaben nach sich ziehen – ich sage nicht, dass das so sein
muss
, aber da könnten durchaus die üblichen Geldstrafen, Konfiszierungen etc. greifen.« Die rundlichen Wangen hoben sich zu einem liebenswerten Lächeln. »Es sei denn, ich bin dabei zugegen und kann mich vergewissern, dass alles mit rechten Dingen zugeht.«
    Der Prior gab sich geschlagen. Bislang hatte Henry II sich zurückgehalten, aber es war davon auszugehen, dass Cambridge beim nächsten Assisengericht mit Bußgeldern belegt werden würde, und zwar mit saftigen Bußgeldern, als Strafe für den Tod eines der für den König einträglichsten Juden.
    Jede Übertretung seiner Gesetze bot dem König Gelegenheit, seine Schatztruhen auf Kosten der Missetäter zu füllen. Henry hörte auf seine Steuereintreiber, die von allen königlichen Untergebenen am meisten gefürchtet waren. Und wenn der hier dem König irgendeine Unregelmäßigkeit im Zusammenhang mit dem Tod der Kinder meldete, dann könnten die Zähne des raubgierigen Plantagenet-Leoparden dieser Stadt das Herz herausreißen.
    »Was verlangt Ihr von uns, Sir Roland?«, fragte Prior Geoffrey müde.
    »Ich will die Leichen sehen.« Die Worte wurden leise ausgesprochen, doch sie trafen den Prior wie ein Peitschenhieb.

    Die Klause, in der die angelsächsische Einsiedlerin St. Werbertha ihr erwachsenes Leben verbracht hatte, bis es recht jäh von einfallenden Dänen beendet wurde, war mit ihren drei Fuß dicken Wänden zwar kühl und aufgrund ihres Standortes auf einer Lichtung am hinteren Ende des Rotwildparks von Barnwellauch einsam gelegen, doch ansonsten völlig ungeeignet für Adelias Zwecke.
    Erstens war sie zu klein. Zweitens war sie mit Sicherheit zu dunkel, obwohl der Prior, wie er gesagt hatte, zwei Lampen hatte herbringen lassen. Ein schmaler Fensterschlitz war mit Holz vernagelt. Wiesenkerbel reckte seine schaumigen Blüten hüfthoch um eine kleine Bogentür.
    Zum Teufel mit der Heimlichtuerei, sie würde die Tür offen lassen müssen, um besser sehen zu können – und schon jetzt wimmelte es davor von Fliegen, die hineinwollten. Wie sollte sie bloß unter diesen Bedingungen arbeiten?
    Adelia stellte ihre Ziegenledertasche draußen auf dem Gras ab, öffnete sie, um den Inhalt zu überprüfen, überprüfte ihn ein zweites Mal – und wusste, dass sie nur den Augenblick hinauszögerte, in dem sie die Tür öffnen musste.
    Das war einfach albern; sie war schließlich keine Amateurin. Rasch kniete sie sich nieder und bat die Toten hinter der Tür um Vergebung, dass sie sich ihren sterblichen Überresten nähern würde. Sie bat darum, immer an den Respekt erinnert zu werden, den sie ihnen schuldete. »Erlaubt eurem Fleisch und euren Knochen, mir das zu sagen, was eure Stimmen nicht mehr sagen können.«
    Das tat sie immer. Dabei war sie nicht sicher, ob die Toten sie hörten, aber sie war keine so entschiedene Atheistin wie ihr Ziehvater, wenngleich sie den Verdacht hatte, dass ihr das, was heute Nachmittag vor ihr lag, jeden Glauben nehmen könnte. Sie erhob sich, holte ihre Schürze aus Öltuch aus der Tasche und zog sie an. Dann nahm sie die Kappe ab und band sich die Gazemaske mit den Schutzgläsern für die Augen um den Kopf. Und öffnete die Tür zur Klause …
    Sir Roland Picot genoss den Spaziergang, zufrieden mit sich selbst. Es würde einfacher werden, als er gedacht hatte. Ein verrücktes Weib, ein verrücktes
ausländisches
Weib, wäre immer gezwungen, sich seiner Autorität zu unterwerfen, aber dank eines unerwarteten Glücksfalls hatte er obendrein jemanden von Prior Geoffreys Ansehen aufgrund seiner Verbindung zu ebendiesem Weib praktisch in der Gewalt.
    Als er sich der Klause näherte, blieb er stehen. Sie sah aus wie ein zu groß geratener Bienenkorb – Gott, den alten Eremiten konnte es nicht karg genug sein. Und da war sie, eine Gestalt, die sich gleich hinter der geöffneten Tür über einen Tisch beugte.
    Um sie auf die Probe zu stellen, rief er: »Doktor.«
    »Ja?«
    Aha
, dachte Sir Roland. Ein Kinderspiel. Als würde er eine Motte mit der Hand fangen.
    Sie richtete sich auf und wandte sich zu ihm um. Er sagte: »Erinnert Ihr Euch an mich, Madam? Ich bin Sir Roland

Weitere Kostenlose Bücher