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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Sache zu tun.
    Er sorgte sich um Juden und Christen. Noch so ein Aufstand, und der Zorn des Königs würde auf die Stadt niederfahren. Und zu allem Übel, dachte der Prior entrüstet, war da auch noch dieser Steuereintreiber, möge Gott ihn und seinesgleichen strafen. Abgesehen davon, dass Sir Roland jetzt seine neugierige Nase in eine Angelegenheit steckte, die der Prior lieber, sehr viel lieber, geheim gehalten hätte, fürchtete er nun zudem um Adelia – und sich selbst.
    Der Emporkömmling wird es dem König stecken, dachte er. Das wird ihr und mir zum Verhängnis werden. Er hat den Verdacht geäußert, es ginge um Totenbeschwörung. Dafür wird sie gehängt werden, und ich … mich wird man beim Papst anschwärzen und verstoßen. Und wenn dieser Steuermensch die Leichen unbedingt sehen wollte, wieso hat er dann nicht darauf bestanden, bei der Untersuchung durch den Leichenbeschauer dabei zu sein? Warum die Obrigkeit meiden, wo der Mann doch selbst zur Obrigkeit gehörte?
    Ebenso beunruhigend war der Umstand, dass ihm Sir Rolands rundliches Gesicht irgendwie bekannt vorkam –
Sir
Roland, wahrhaftig. Seit wann schlug der König Steuereintreiber zu Rittern? – und er auf dem ganzen Weg von Canterbury hierher nicht hatte ergründen können, wieso.
    Während sein Pferd nun die steile Straße zur Burg hinauftrottete, sah der Prior vor seinem geistigen Auge noch einmal die Szene vor sich, die sich just an diesem Hang vor einem Jahr abgespielt hatte. Wie die Männer des Sheriffs versuchten, dieverängstigten Juden vor einem wütenden Mob zu schützen, wie er selbst und der Sheriff sich lauthals bemühten, die Leute zur Räson zu bringen.
    Panik und Hass, Ignoranz und Gewalt … an jenem Tag war der Teufel in Cambridge gewesen.
    Und auch der Steuereintreiber
. Ein Gesicht in der Menge, das er bis jetzt vergessen hatte. Verzerrt wie alle anderen, während der Mann, dem es gehörte, kämpfte … mit wem kämpfte? Gegen die Männer des Sheriffs? Oder für sie? In diesem schauerlichen Wirrwarr aus Lärm und Gliedmaßen war das unmöglich zu erkennen gewesen.
    Der Prior trieb sein Pferd weiter an.
    Die Anwesenheit des Mannes damals an diesem Ort musste noch nichts Schlimmes bedeuten. Sheriffs und Steuereintreiber gehörten zusammen. Der Sheriff sammelte die Einkünfte des Königs ein, und der königliche Steuereintreiber sorgte dafür, dass der Sheriff nicht zu viel davon in die eigene Tasche steckte. Der Prior zog ruckartig an den Zügeln.
Aber ich habe ihn auch sehr viel später auf dem Jahrmarkt von St. Radegund gesehen
.
Da applaudierte er einem Mann auf Stelzen. Und an dem Tag verschwand die kleine Mary. Gott schütze uns
.
    Der Prior grub die Fersen in die Flanken seines Pferdes. Eile war geboten. Er musste noch dringender mit dem Sheriff sprechen.

    »Mmm. Unten am Becken ist ein kleines Stück vom Knochen abgebrochen, möglicherweise ist die Beschädigung
post mortem
unabsichtlich erfolgt, doch da die Schnitte offenbar mit erheblicher Wucht ausgeführt wurden und die anderen Knochen unbeschädigt sind, liegt die Vermutung nahe, dass sie von einem Gegenstand stammen, der in die Vagina gestoßen wurde …«
    Sir Roland hasste sie, hasste ihre gleichmütige, gemessene Stimme. Sie tat allem Weiblichen schon allein dadurch Gewalt an, dass sie die Worte aussprach. Es stand ihr nicht zu, ihre Frauenlippen zu öffnen und diesen Worten Form zu verleihen, diese Abscheulichkeit hinauszulassen. Sie sprach die Tat aus und machte sich somit zur Komplizin. Zur Täterin, zur Hexe. Ihre Augen sollten das, was sie sahen, nicht betrachten können, ohne zu bluten.
    Adelia zwang sich, ein Schwein zu sehen. An Schweinen hatte sie gelernt. Schweine – in der Tierwelt die größtmögliche Annäherung an menschliche Körper und Knochen. Oben in den Bergen hatte Gordinus hinter einer hohen Mauer für seine Studenten tote Schweine aufbewahrt, manche vergraben, manche der Luft ausgesetzt, manche in einer Holzhütte, andere in einem gemauerten Stall.
    Die meisten Studenten, die diese Todesfarm das erste Mal betraten, hatten sich von den Fliegen und dem Gestank abschrecken lassen. Nur Adelia sah das Wunder des Vorgangs, der einen Kadaver zu Nichts reduzierte. »Denn selbst ein Skelett ist nicht von Dauer und wird letztendlich zu Staub zerfallen, wenn man es sich selbst überlässt«, hatte Gordinus gesagt. »Ist es nicht fabelhaft eingerichtet, meine Liebe, dass wir nicht unter Leichenbergen ersticken, die sich in Tausenden von Jahren

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