Die Totenleserin1
ein Fremder, nicht Mansur, ihr zuhörte.
»Gütiger Gott, warum sagt Ihr das?«
Wie für ihre Studenten zitierte sie auch für ihn den Prediger Salomo: »›
Ein jegliches hat seine Zeit … geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit.
‹ Auch das Verfaulen hat seine Zeit.«
»Dann hat dieser Teufel ihn am Leben gehalten? Wie lange?«
»Das
weiß
ich nicht.«
Es gab tausend mögliche Gründe für den Unterschied zwischen diesem Leichnam und Schwein achtundsiebzig. Sie war gereizt, weil sie müde war und bekümmert. Mansur hätte das nicht gefragt, weil er wusste, dass sie auf ihre Bemerkungen keine Reaktion erwartete. »Ich will mich da nicht festlegen.«
Auch bei Ulric hatte sich in die Fersen Kreide eingedrückt.
Die Sonne war fast untergegangen, als alle drei Körper wieder eingehüllt waren, bereit für die Einsargung. Die Frau ging nach draußen, um Schürze und Maske abzunehmen, während Sir Roland die Lampen löschte, so dass die Klause samt Inhalt in gnädiges Dunkel sank.
An der Tür kniete er nieder, wie er das einst vor der Grabeskirche in Jerusalem getan hatte. Jene winzige Kammer war kaum größer gewesen als diese hier. Der Tisch, auf dem die Kinder aus Cambridge lagen, war etwa so groß wie das Grab Christi. Auch dort war es dunkel gewesen. Die zahlreichen Altäre und Kapellen dahinter und rings herum bildeten zusammen die prächtige Basilika, die von den ersten Kreuzfahrern über den heiligen Orten errichtet worden war, und das Raunen der Pilger hallte ebenso wider wie die Gesänge der griechisch-orthodoxen Mönche, die an dem Ort, wo Golgatha gewesen war, ihre endlosen Loblieder sangen.
Hier war nur das Surren der Fliegen zu hören.
Damals hatte er für die Seelen der Verstorbenen gebetet und um Hilfe und Vergebung für sich selbst gefleht.
Jetzt betete er für sie.
Als er herauskam, war die Frau dabei, sich Gesicht und Hände über einer Schüssel zu waschen. Als sie fertig war, tat er es ihr nach – sie hatte Seifenkraut in das Wasser gegeben. Er zerdrückte die Stängel und wusch sich die Hände. Er war müde, Gott, war er müde.
»Wo wohnt Ihr, Doktor?«, fragte er sie.
Sie schaute ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Wie war noch gleich Euer Name?«
Er versuchte, nicht verärgert zu sein. So wie sie aussah, musste sie noch erschöpfter sein als er. »Sir Roland Picot, Madam. Meine Freunde nennen mich Rowley.«
Zu denen würde sie wohl nie zählen, das sah er ihr an. Sie nickte. »Danke für Eure Hilfe.« Sie packte ihre Tasche, hob sie auf und ging davon.
Er hastete ihr nach. »Darf ich fragen, welche Folgerungen Ihr aus Eurer Untersuchung zieht?«
Sie antwortete nicht.
Zum Teufel mit der Frau. Da er ihre Beobachtungen niedergeschrieben hatte, sollte er jetzt wohl seine eigenen Schlüsse ziehen, aber Sir Roland, der eigentlich kein demütiger Mann war, hatte erkannt, dass er es mit jemandem zu tun hatte, mit dessen Wissen er es nie und nimmer würde aufnehmen können. Er versuchte es erneut: »Wem werdet Ihr Eure Feststellungen mitteilen, Doktor?«
Keine Antwort.
Sie gingen durch die langen Schatten der Eichen, die sich über die Mauer des Rotwildparks reckten. Die Glocke der Stiftskapelle schlug zur Vesper, und weiter vorn zeichneten sich die Silhouetten der Bäckerei und des Brauhauses vor der unterge-hendenSonne ab. Gestalten in violetten Rochetts strömten aus den Gebäuden auf die Wege, wie Blütenblätter, die alle in eine Richtung geweht wurden.
»Sollen wir am Gottesdienst teilnehmen?« Falls Sir Roland je den Balsam der Abendlitanei gebraucht hatte, dann jetzt.
Sie schüttelte den Kopf.
Zornig sagte er: »Wollt Ihr denn nicht für die Kinder beten?« Sie wandte sich um, und er blickte in ein vor Übermüdung verzerrtes Gesicht, dessen Zorn noch größer war als seiner. »Ich bin nicht hier, um für sie zu beten«, sagte sie, »ich bin gekommen, um für sie zu sprechen.«
Kapitel Fünf
A ls Prior Geoffrey am Nachmittag aus der Burg in das stattliche Haus zurückkehrte, das von jeher die Prioren von St. Augustine beherbergte, musste er noch mehr Vorkehrungen treffen.
»Sie wartet in der Bibliothek auf Euch«, sagte Bruder Gilbert knapp. Er missbilligte Treffen unter vier Augen zwischen seinem Oberen und einer Frau.
Prior Geoffrey ging hinein und setzte sich in den großen Sessel hinter seinem Arbeitstisch. Er forderte die Frau nicht auf, Platz zu nehmen, weil er wusste,
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