Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
Vom Netzwerk:
fiel in Streifen durch das kleine Fenster von St. Werbertha auf sie, wie auf eine monströse Schmeißfliege, die über dem Ding auf dem Tisch schwebte. Die Gaze glättete ihre Gesichtszüge, verlieh ihr etwas Schmetterlingshaftes und drückte einige Haarsträhnen an den Kopf wie angelegte Fühler. Und »hmmm« summte das Ding mit der gleichen Hartnäckigkeit wie die gefräßige, flirrende, wogende Wolke um sie herum.
    Sie war mit der Skizze fertig und hielt dem Mann Tafel und Kreide hin. »Nehmt«, herrschte sie ihn an. Mansur fehlte ihr. Als Sir Roland sich nicht rührte, wandte sie sich um und sah seinen Blick.
    Denselben Blick, den sie schon bei anderen gesehen hatte. Müde sagte sie fast zu sich selbst: »Warum wollen sie immer den Boten erschießen?«
    Er starrte sie an. War das der Grund für seinen Zorn?
    Sie kam heraus und schlug Fliegen weg. »Die Kleine da drin sagt mir, was ihr widerfahren ist. Mit etwas Glück sagt sie mir vielleicht sogar, wo. Mit noch mehr Glück bringt uns das möglicherweise auf die Spur des Täters. Wenn Ihr das alles nicht herausfinden möchtet, dann fahrt zur Hölle. Aber holt mir vorher noch jemanden her, der es möchte.«
    Sie zog den Helm vom Kopf, fuhr sich mit gespreizten Fingerndurchs Haar, ein dunkelblonder Schimmer, hielt das Gesicht in die Sonne.
    Es waren ihre Augen, dachte er. Mit geschlossenen Augen sah sie wieder so alt aus, wie sie in Wirklichkeit war, etwas jünger als er, wie er vermutete, und bekam fast so etwas wie weibliche Züge. Aber sie war nicht nach seinem Geschmack. Er mochte die Frauen lieblicher, rundlicher. Die geöffneten Augen ließen sie älter erscheinen. Sie waren kalt und dunkel, wie Kieselsteine – und mit ebenso wenig Gefühl. Kein Wunder, wenn man bedachte, was sie so alles sehen mussten.
    Aber wenn die Frau das Orakel tatsächlich zum Sprechen bringen konnte …
    Die Augen richteten sich auf ihn. »Also?«
    Er riss ihr Tafel und Kreide aus der Hand. »Euer Diener, Madam.«
    »In der Tasche da ist noch mehr Gaze«, sagte sie. »Bedeckt Euch das Gesicht, dann kommt rein und macht Euch nützlich.«
    Und Manieren, dachte er, er mochte Frauen mit Manieren. Aber als sie sich wieder die Maske um den Kopf band, die mageren Schultern straffte und zurück in das Leichenhaus marschierte, erkannte er die Tapferkeit eines müden Soldaten, der sich erneut in die Schlacht stürzt.
    Das zweite Bündel enthielt Harold, den rothaarigen Sohn des Aalhändlers, Schüler an der Stiftsschule.
    »Das Fleisch ist besser erhalten als bei Mary, gleichsam mumifiziert. Die Augenlider wurden abgeschnitten, ebenso die Genitalien.«
    Roland Picot legte das Büschel beiseite, um sich zu bekreuzigen.
    Die Tafel füllte sich mit unaussprechlichen Wörtern, die jedoch von ihr ausgesprochen wurden. Mit Strick gefesselt. Spitzer Gegenstand. Anale Penetration.
    Und wieder, Kreide.
    Das interessierte sie. Ihr Summen verriet es ihm. »Kreideland.«
    »Der Icknield Way ist nicht weit von hier«, erklärte er. »Die Gog-Magog-Hügel, wo wir wegen des Priors Rast gemacht haben, sind aus Kreide.«
    »Die Kinder haben Kreide im Haar. Bei Harold hat sich auch Kreide in die Fersen gedrückt.«
    »Was will uns das sagen?«
    »Dass er über Kreide geschleift wurde.«
    Das dritte Bündel enthielt die sterblichen Überreste von Ulric, acht Jahre alt. Er wurde seit dem diesjährigen Festtag von St. Edward vermisst, und da sein Verschwinden noch nicht so weit zurücklag, entfuhr der Medizinerin häufiger ein »Hmm« als bei den beiden anderen Kindern – für Roland, der allmählich anfing, die Zeichen zu deuten, ein Signal, dass sie hier mehr und besseres Material zu untersuchen hatte.
    »Keine Augenlider, keine Genitalien. Der Junge wurde nicht vergraben. Wie war hier im März das Wetter?«
    »Ich glaube, es war in ganz East Anglia recht trocken, Madam. Die Bauern haben befürchtet, das frisch gesäte Getreide würde verdorren. Kalt, aber trocken.«
    Kalt, aber trocken. Ihr Gedächtnis, für das sie in Salerno berühmt war, durchsuchte die Todesfarm und blieb bei dem Frühjahrsschwein Nummer achtundsiebzig hängen. Ungefähr dasselbe Gewicht. Auch das Schwein war nur etwas über einen Monat tot gewesen, bei kaltem, trockenem Wetter, doch die Verwesung war weiter fortgeschritten gewesen. Sie hätte bei dem Körper des Jungen eigentlich einen ähnlichen Zustand erwartet. »Hat man dich zunächst am Leben gelassen, nachdem du verschwandest?«, fragte sie die Leiche, weil sie vergessen hatte, dass

Weitere Kostenlose Bücher