Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
Vom Netzwerk:
angehäuft haben?«
    Es war tatsächlich fabelhaft, ein Mechanismus, der in Gang gesetzt wurde, sobald der letzte Atemzug dem Körper entwich und er sich selbst überlassen war. Verwesung faszinierte sie, weil sie – und Adelia begriff immer noch nicht wie – auch ohne die Hilfe von Fleischfliegen und Schmeißfliegen einsetzte, die sich als Erstes einfanden, wenn der Körper ihnen zugänglich war.
    Daher hatte sie, gleich nach bestandener Prüfung zur Ärztin, ihr neues Spezialgebiet an Schweinen erlernt. An Schweinenim Frühling, Schweinen im Sommer, Schweinen im Herbst und im Winter, und in jeder Jahreszeit hatte der Verfall eine andere Geschwindigkeit. Wie sie gestorben waren. Wann. Schweine, die aufrecht saßen, Schweine die kopfüber hingen, liegende Schweine, geschlachtete Schweine, an Krankheiten gestorbene Schweine, vergraben, unvergraben, in Wasser gelagert, alte Schweine, Säue, die geworfen hatten, Eber, Ferkel.
    Das
Ferkel. Der entscheidende Moment. Gerade erst gestorben, nur wenige Tage alt. Sie hatte es mit zu Gordinus genommen.
    »Etwas Neues«, hatte sie gesagt. »Die Substanz da im Anus, die kann ich mir nicht erklären.«
    »Etwas Altes«, hatte er erwidert. »So alt wie die Sünde. Das ist menschlicher Samen.«
    Er hatte sie auf seinen Balkon mit Blick auf das türkisfarbene Meer geführt, hatte sie Platz nehmen lassen und sie mit einem Glas von seinem besten Rotwein gestärkt, ehe er sie fragte, ob sie weitermachen oder lieber zur normalen medizinischen Arbeit zurückkehren wolle. »Willst du die Wahrheit sehen oder sie meiden?«
    Er hatte ihr Vergil vorgelesen, aus einem Buch der Georgica, sie wusste nicht mehr, aus welchem, das sie auf die sonnengetränkten Hügel der Toskana entführte, wo Lämmer, trunken von Milch, aus purer Freude tollten und sprangen, gehütet von Schäfern, die sich zu den Klängen der Panflöte wiegten.
    »Und jeder von denen könnte sich ein Schaf packen, die Hinterbeine in seine Stiefel und ihm sein Organ in den After schieben«, hatte Gordinus gesagt.
    »Nein«, hatte sie gesagt.
    »Oder in ein Kind.«
    »Nein.«
    »Oder in einen Säugling.«
    »
Nein.
«
    »O doch«, hatte er gesagt. »Ich hab’s gesehen. Das verdirbt dir doch hoffentlich nicht die Freude an den Georgica?«
    »Es verdirbt alles.« Dann hatte sie gesagt: »Ich kann unmöglich weitermachen.«
    »Der Mensch schwebt zwischen dem Paradies und dem Höllenpfuhl«, klärte Gordinus sie heiter auf. »Manchmal schwingt er sich zur einen Seite hoch, manchmal stürzt er die andere hinab. Seinen Hang zum Bösen zu missachten ist ebenso kurzsichtig wie die Blindheit gegenüber den Höhen, die er erreichen kann. Vielleicht ist alles im Tanz der Planeten eins. Du selbst hast die Tiefen des Menschen gesehen, gerade eben habe ich dir Zeilen von seinem himmelstürmenden Flug vorgelesen. Geh also nach Hause, Doktor, und streife die Augenbinde über, ich nehme es dir nicht übel. Aber verstopfe dir zugleich auch die Ohren gegen die Rufe der Toten. Die Wahrheit ist nichts für dich.«
    Sie war tatsächlich nach Hause gegangen, zu den Schulen und Krankenhäusern, um sich den Applaus derjenigen abzuholen, die sie unterrichtete und heilte, doch ihre Augen waren jetzt ohne Binde und ihre Ohren nicht verstopft, und die Rufe der Toten hatten ihr keine Ruhe gelassen, und so war sie zum Studium der Schweine zurückgekehrt, um sich dann, als sie bereit war, dem Studium menschlicher Leichname zu widmen.
    In Fällen wie dem, den sie jetzt vor sich auf dem Tisch hatte, griff sie jedoch auf eine metaphorische Augenbinde zurück, um überhaupt weiter funktionieren zu können: Sie setzte sich sozusagen selbst Scheuklappen auf, um nicht zu verzweifeln und damit nutzlos zu werden, weil es ihr durch diese notwendige Einengung des Gesichtsfeldes möglich wurde, zwar noch zu sehen, aber nicht den gemarterten, einst makellosen Körper eines Kindes, sondern nur den vertrauten Kadaver eines Schweins.
    Die Stichverletzungen am Becken hatten ungewöhnliche Spuren hinterlassen. Adelia hatte schon viele Messerwunden gesehen, aber keine wie diese. Die Klinge der Waffe, die sie verursacht hatte, schien vielfach facettiert zu sein. Sie hätte das Becken gerne entnommen, um es bei besserem Licht eingehender zu untersuchen, aber sie hatte Prior Geoffrey versprochen, keine Sezierung vorzunehmen. Sie streckte die Hand aus und schnippte mit den Fingern, damit ihr der Mann Tafel und Kreide reichte.
    Er betrachtete sie, während sie zeichnete. Sonnenlicht

Weitere Kostenlose Bücher