Die Totenleserin1
Geoffrey hatte es nur recht und billig gefunden, dass die drei aus Salerno Angereisten eines der verlassenen Häuser im Judenviertel bewohnen sollten, waren sie doch wegen der Juden hierhergekommen.
Allerdings hielt er es nicht für ratsam, sie in Chaims prächtigem Stadthaus weiter unten am Fluss unterzubringen. »Der alte Benjamin ist zwar Pfandleiher, aber er wurde in der Stadt mit weniger Feindseligkeit betrachtet als der arme Chaim mit all seinem Reichtum«, hatte er gesagt. »Und man hat dort eine gute Aussicht auf den Fluss.«
Dass es ein Judenviertel gab, an dessen Rand dieses Haus stand, rief Adelia in Erinnerung, dass die Juden in Cambridge vom Leben der Stadt ausgeschlossen worden waren oder sich selbst davon ausgeschlossen hatten – so wie in fast allen englischen Städten, durch die sie auf ihrem Weg hierhergereist war.
So gut situiert es auch sein mochte, es war ein Ghetto, das jetzt verlassen war. Das Haus des alten Benjamin zeugte von tief verwurzelter Angst. Es stand mit der Giebelseite zur Straße, um einem Angriff von außen möglichst wenig Fläche zu bieten. Es war aus Stein erbaut anstatt aus lehmverputzten Flechtwerk, und die Tür hätte einem Rammbock widerstehen können. Die kleine Nische an einem der Türpfosten war leer: Das Behältnis mit der Mezuzah darin war herausgerissen worden.
Oben auf der Treppe war eine Frau erschienen, die Mansur mit dem Gepäck half. Als Adelia näher kam, rief einer der Gaffer:
»Arbeitest du jetzt für die, Gyltha?«
»Das geht dich gar nichts an«, rief Gyltha an der Tür zurück.
»Kümmer dich um deinen eigenen Mist.«
Die Menge murrte ein bisschen, rührte sich aber nicht von der Stelle, sondern erörterte die Lage, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Mittlerweile hatte sich manches herumgesprochen, was dem Prior unterwegs widerfahren war.
»Dann können’s keine Juden sein. Unsere Gyltha würd nich für die Gottlosen arbeiten.«
»Sarazenen, hab ich gehört.«
»Der mit dem Handtuch auf dem Kopf, der soll der Arzt sein.«
»Wie der aussieht, ist er eher ein Teufel.«
»Hat den Prior gesund gemacht, heißt es, Sarazene hin oder her.«
»Wie viel der einem wohl abknöpfen tut, was meint ihr?«
»Ist die da ihr Liebchen?« Die Frage wurde mit einem Nicken in Adelias Richtung über ihren Kopf hinweg gestellt.
»Nein, ist sie nicht«, sagte sie.
Der Frager, ein Mann, war verblüfft. »Du sprichst ja Englisch, Mädchen.«
»Ja. Ihr auch?« Der Dialekt der Leute unterschied sich stark von dem Devonshire-Englisch, das sie auf Margarets Knien gelernt hatte, aber sie konnte ihn verstehen.
Der Mann schien nicht gekränkt, sondern erheitert zu sein. »Flotte kleine Maus, was?«, fragte der Mann die Umstehenden. Dann an sie gewandt: »Der Braune da. Braut der gute Medizin?«
»Die beste, die man kriegen kann«, antwortete sie. Und das stimmt wahrscheinlich sogar, dachte sie. Der Krankenpfleger im Stift war bestimmt nur ein kräuterkundiger Mann, der sein Wissen, das er freigebig verteilte, aus Büchern bezog – von denen Adelias Meinung nach viele fahrlässig falsch waren. Diejenigen, bei denen er nicht weiterwusste und die sich selbst nicht mehr behandeln konnten, waren der Gnade der städtischen Quacksalber ausgeliefert, die komplizierte, nutzlose, teure und vermutlich widerliche Tinkturen verkauften, die eher beeindrucken sollten als heilen.
Ihr neuer Bekannter fasste ihre Antwort als Empfehlung auf.
»Dann werd ich dem wohl mal einen Besuch abstatten. Bruder Theo oben im Stift hat mich schon aufgegeben.«
Eine grinsende Frau stupste ihren Nachbarn an. »Nun sag ihr schon, was dir fehlt, Wulf.«
»Der meint, ich wär ein hoffnungsloser Simulant«, sagte Wulf gehorsam, »und er weiß gar nich mehr, wie er das behandeln soll.«
Adelia fiel auf, dass keiner fragte, warum sie und Simon und Mansur in der Stadt waren. Für die Männer und Frauen von Cambridge war es ganz natürlich, dass Fremde sich hier niederließen. Schließlich kamen sie von überall her, um hier Geschäftezu machen. Wo auch sonst? Die Fremde war Drachenland.
Als sie sich durch die Menge zum Tor drängen wollte, versperrte ihr eine Frau, die ein kleines Kind hochhielt, den Weg.
»Ihm tut’s Ohr weh. Er braucht ’nen Arzt.« Nicht alle hier waren aus bloßer Neugier gekommen.
»Er ist beschäftigt«, sagte Adelia. Aber das Kind wimmerte vor Schmerzen. »Na gut, ich schau’s mir an.«
Irgendwer in der Menge hielt hilfsbereit ein Laterne hoch, während sie das Ohr
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