Die Totenleserin1
ermordet hat? Ist das richtig?«
»Ja,
ja.«
»Und das kann sie herausfinden, wenn sie sich den armen Leichnam ansieht?«
Sir Rowley erkannte in ihr eine Verbündete und nickte. »Möglicherweise.«
Gyltha wies Matilda B an: »Hol ihren Umhang.« Und zu Adelia: »Wir gehen zusammen.« Und zu Ulf: »Du bleibst hier, Junge. Geh den Matildas zur Hand.«
Eingekeilt zwischen Sir Rowley und Gyltha und gefolgt von Mansur und dem Aufpasser wurde Adelia im Eilschritt durch die Straßen Richtung Brücke geschoben. Sie protestierte noch immer wortreich. »Es kann nicht der Mann gewesen sein, den wir suchen. Er greift nur Wehrlose an. Das hier ist anders. Es ist …«, sie verlangsamte ihren Schritt, um zu überlegen, was es war, »… es ist das alltägliche Entsetzen.«
Für den Flussaufseher, der ihnen die traurige Nachricht überbracht hatte, waren Leichen in der Cam nichts Ungewöhnliches. Und sie, die schon so viele vom Wasser aufgedunsene Leichen auf ihrem Marmortisch in Salerno untersucht hatte, hatte sein Urteil auch nicht in Frage gestellt. Die Leute ertranken im eigenen Bad, Seeleute fielen über Bord, und die meisten konntennicht schwimmen, Riesenwellen rissen Menschen ins Meer. Kinder, Männer und Frauen ertranken in Flüssen, Teichen, Brunnen, in Tümpeln. Die Leute begingen tragische Fehleinschätzungen, machten einen unvorsichtigen Schritt. Es war eine ganz gewöhnliche Art zu sterben.
Sie hörte den Steuereintreiber ungeduldig schnauben, während er sie weiterscheuchte. »Unser Mann ist ein wilder Hund. Wilde Hunde schnappen nach der Kehle, wenn sie bedroht werden. Und Simon war eine Bedrohung geworden.«
»Groß war er auch nicht gerade«, sagte Gyltha. »Ein netter kleiner Mann, aber nicht mehr dran als an einem Kaninchen.« Das stimmte. Aber dass er ermordet worden sein sollte. Adelias Verstand wehrte sich dagegen. Sie und Simon waren hergekommen, um die Menschen einer unbedeutenden Stadt in einem fremden Land aus einer Gefahr zu befreien, in die sie sich selbst gebracht hatten, und nicht, um selbst von dieser Gefahr verschlungen zu werden. Sie hatte geglaubt, sie und er wären dagegen gefeit, weil ihnen als denjenigen, die Nachforschungen anstellten, eine besondere Art von Immunität zustand. Und sie wusste, dass Simon das auch geglaubt hatte.
Sie blieb wie angewurzelt stehen. »Wir waren die ganze Zeit in Gefahr?«
Der Steuereintreiber blieb ebenfalls stehen. »Wie schön, dass Ihr das endlich begreift. Habt Ihr geglaubt, Ihr wärt unantastbar?«
Sir Rowley und Gyltha drängten sie erneut weiter, sprachen über ihren Kopf hinweg miteinander.
»Habt Ihr gesehen, wie er das Fest verließ, Gyltha?«
»Das nich gerade. Er ist kurz in die Küche gekommen, hat dem Koch ein Kompliment gemacht und sich von mir verabschiedet.« Gylthas Stimme bebte einen Moment. »Immer höflich, so war er.«
»War das, bevor der Tanz anfing?«
Gyltha seufzte. In Sir Joscelins Küche war es gestern Abend drunter und drüber gegangen.
»Wenn ich das noch wüsste. Könnte sein. Er hat gesagt, er muss noch was arbeiten, bevor er ins Bett geht, das weiß ich noch. Deshalb ist er auch früher gegangen.«
»Noch was arbeiten.«
»Genau seine Worte.«
»Er wollte die Listen durchsehen.«
Wie gewöhnlich herrschte auf der Brücke reger Betrieb. Sie hatten Mühe, nebeneinanderzugehen, und da Sir Rowley sie fest am Arm hielt, wurde Adelia immer wieder von Leuten angerempelt, in der Mehrzahl Schreiber mit Amtskette um den Hals. Sie hatten es allesamt eilig und waren in Scharen unterwegs. Die Obrigkeit hatte in Cambridge Einzug gehalten, und Adelia fragte sich vage, weshalb.
Das Frage-und-Antwort-Spiel über ihrem Kopf ging weiter.
»Hat er gesagt, wie er nach Hause wollte? Zu Fuß? Oder mit dem Boot?«
»Im Stockdunkeln? Da wär er sicher nich zu Fuß gegangen.« Wie die meisten Menschen in Cambridge betrachtete Gyltha das Boot als einzig wahres Transportmittel. »Irgendwer ist bestimmt gleichzeitig mit ihm aufgebrochen und hat ihm angeboten, ihn zu Hause abzusetzen.«
»Ich fürchte, genau das hat irgendwer getan.«
»O gütiger Gott, steh uns bei.«
Nein,
nein
, dachte Adelia. Simon war nicht unvorsichtig. Er war kein Kind, das sich von Jujuben anlocken ließ. Aber Stadtmensch, der er war, hatte er sich dummerweise entschlossen, am Flussufer entlangzugehen. Er war im Dunkeln ausgerutscht, es war ein Unfall.
»Wer ist zur selben Zeit wie er aufgebrochen?« Picots Stimme.
Doch Gyltha wusste es nicht. Außerdem
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