Die Totenleserin1
Güte, der Koch und die Frau des Sheriffs. Keine Zeit zum Staunen. Rechte Schulter an rechte Schulter. Tanzen, tanzen. Ihre Arme und die von Rowley bilden einen Bogen, Gyltha und Prior Geoffrey tauchen darunter hindurch. Die dürre Nonnemit dem Apotheker. Jetzt Hugh der Jäger und Matilda B. Die vom unteren Ende der Tafel und die vom oberen im Bann eines demokratischen, tanzenden Gottes. O Gott, das ist pure Freude mit Flügeln. Fang sie, fang sie.
Adelia tanzte ihre Schuhe durch und merkte es erst, als ihr die Fußsohlen von der Reibung brannten.
Im Schwung drehte sie sich aus dem Gewimmel heraus. Es war Zeit zu gehen. Einige Gäste verabschiedeten sich, doch die meisten standen an den Anrichten, auf denen ein letzter Gang serviert wurde.
Sie humpelte zur Tür. Mansur schloss sich ihr an. »Habe ich richtig gesehen und Master Simon ist schon gegangen?«, fragte sie ihn.
Er machte sich auf die Suche nach ihm, und als er aus Richtung Küche zurückkam, hatte er einen schlafenden Ulf auf dem Arm.
»Die Frau sagt, er ist schon vorgegangen.« Mansur benutzte nie Gylthas Namen. Sie war immer einfach »die Frau«.
»Bleiben sie und die Matildas noch hier?«
»Sie helfen beim Aufräumen. Wir nehmen den Jungen mit.«
Prior Geoffrey und seine Mönche waren anscheinend längst gegangen. So auch die Nonnen außer Priorin Joan, die an einer Anrichte stand, in einer Hand ein Stück Wildpastete, in der anderen einen Humpen. Sie war so angeheitert, dass sie Mansur zulächelte und mit der Pastete einen Segen wedelte, als Adelia sich mit einem Knicks bedankte.
Sir Joscelin kam ihnen aus dem Hof entgegen, wo Gestalten im Feuerschein an Knochen nagten.
»Ihr habt uns geehrt, Mylord«, sagte Adelia zu ihm. »Ich soll Euch im Namen von Doktor Mansur unserer Dankbarkeit versichern.«
»Nehmt Ihr den Weg über den Fluss? Ich kann mein Boot kommen …«
Nein, nein, sie waren mit dem Stechkahn des alten Benjamin da, aber vielen Dank.
Trotz der Fackel, die an einem Pfosten am Ufer brannte, war es fast zu dunkel, um den Kahn des alten Benjamin unter den vielen anderen zu erkennen, doch da sie alle, bis auf den von Sheriff Baldwin, gleichförmig schlicht waren, nahmen sie einfach den ersten in der Reihe.
Der immer noch schlafende Ulf wurde Adelia, die im Bug Platz nahm, auf den Schoß gelegt, und der Aufpasser stand unglücklich am Heck. Mansur nahm die Stakstange …
Der Kahn schaukelte bedenklich, als Sir Rowley Picot an Bord sprang.
»Zur Burg, Bootsführer.« Er setzte sich auf eine Ruderbank. »Nun, ist das nicht schön?«
Ein leichter Nebel stieg vom Wasser auf, und ein zunehmender Mond schien schwach, verschwand jedoch manchmal, wenn weit überhängende Bäume an den Ufern den Fluss in einen Tunnel verwandelten. Eine gespenstisch weiße Masse entpuppte sich als Schwan, der mit wilden Flügelschlägen protestierte, weil er ihnen Platz machen musste.
Mansur sang wie immer beim Staken leise vor sich hin, eine atonale Erinnerung an Wasser und Schilf in einem anderen Land.
Sir Rowley beglückwünschte Adelia zu ihrem erfahrenen Bootsführer.
»Er ist ein Marsch-Araber«, sagte sie, »er fühlt sich im Sumpfland zu Hause.«
»Tatsächlich? Hätte ich nicht gedacht bei einem Eunuchen.«
Sogleich wurde sie trotzig. »Was habt Ihr denn gedacht? Dicke Männer, die sich im Harem herumlümmeln?«
Er war verblüfft. »Ja, genau. Die Einzigen, die ich je gesehen habe, waren so.«
»Als Ihr auf dem Kreuzzug wart?«, fragte sie, noch immer in Angriffsstimmung.
»Als ich auf dem Kreuzzug war«, gestand er.
»Dann ist Eure Erfahrung mit Eunuchen begrenzt, Sir Rowley. Ich gehe davon aus, dass Mansur irgendwann Gyltha heiratet.« Ach, verflixt, sie hatte noch immer eine lose Zunge vom Met. Hatte sie ihren teuren Araber verraten? Und Gyltha?
Aber sie würde Mansur nicht von diesem … diesem
Kerl
, diesem möglichen Mörder, der nicht einmal würdig war, ihm die Stiefel zu lecken, verunglimpfen lassen.
Rowley beugte sich vor. »Im Ernst? Ich dachte, bei seiner, äh, Verfassung wäre eine Heirat ausgeschlossen.«
Verflixt und zugenäht und verdammt, jetzt hatte sie sich auch noch in die Lage manövriert, die Möglichkeiten von Kastrierten erklären zu müssen. Aber wie sollte sie es ausdrücken? »Nur Kinder sind bei einer solchen Verbindung ausgeschlossen. Da Gyltha ohnehin zu alt ist, um Kinder zu bekommen, wird das für die beiden nicht ins Gewicht fallen.«
»Verstehe. Und wie steht es mit den, ähm, übrigen Gunstbezeugungen
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