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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Freundin.«
    »Das hat er mir erzählt. Seid unbesorgt, meine Tochter. Denn für unsere kleine Gemeinde ist die Beisetzung Eures Freundes eine heilige Pflicht. Wir haben bereits die
Tahara
durchgeführt, seinen Leichnam gewaschen und in ein schlichtes weißes Totenhemd, das
Tachrichim
, gekleidet, damit er seine Reise zur nächsten Stufe antreten kann. Ein Sarg aus Weidenzweigen, wie es der weise Lehrer Rabban Gamliel vorschreibt, ist bereits in Arbeit. Seht hier. Ich zerreiße meine Kleidung für den Verstorbenen.« Der Rabbi riss sein bereits etwas heruntergekommenes Gewand vorne ein, eine rituelle Geste der Trauer.
    Sie hätte es wissen müssen. »Danke, Rabbi, danke.« Doch da war noch etwas. »Aber er sollte nicht allein gelassen werden.« »Er ist nicht allein. Der alte Benjamin hat die Aufgabe des
Schomer
übernommen, er hält die Totenwache und spricht die entsprechenden Psalmen.« Rabbi Gotsce blickte sich um. Der Prior und der Steuereintreiber waren im Gespräch vertieft. Er senkte die Stimme: »Was die Beerdigung angeht: Wir sind ein anpassungsfähiges Volk, das mussten wir werden, und der Herr weiß, was uns unmöglich ist. Er hat Verständnis, wenn wir hier und da ein wenig abweichen.« Seine Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. »Wir haben schon immer festgestellt, dass auch die christlichen Gesetze einen gewissen Spielraum erlauben, vor allem dann, wenn es eine Frage des Geldes ist. Wir sammeln von dem wenigen, das wir haben, um ein Plätzchen in derErde dieser Burg zu kaufen, wo wir unseren Freund würdevoll zur ewigen Ruhe betten können.«
    Adelia lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. »Ich habe reichlich Geld.«
    Rabbi Gotsce trat zurück. »Dann besteht ja gar kein Grund zur Sorge.« Er nahm ihre Hand, um den Segen zu sprechen, der für die Trauernden vorgeschrieben war:
»Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der wahre Richter.«
    Einen Augenblick lang empfand Adelia einen dankbaren Frieden. Vielleicht lag es an dem Segen, vielleicht an der Gegenwart von wohlmeinenden Männern, vielleicht an der bevorstehenden Geburt von Dinas Kind.
    Dennoch, so dachte sie, wie immer sie ihn auch beerdigen, Simon ist tot. Etwas ungeheuer Wertvolles ist der Welt entrissen worden. Und du, Adelia, bist aufgefordert herauszufinden, ob es ein Unfall war oder Mord – das vermag sonst niemand.
    Es widerstrebte ihr nach wie vor, Simons Leichnam zu untersuchen, auch deshalb, wie sie sich eingestand, weil sie vor dem, was er ihr verraten könnte, Angst hatte. Wenn das noch frei herumlaufende Ungeheuer ihn getötet hatte, dann war nicht nur Simon sein Opfer, sondern auch ihre Entschlossenheit, die Mission fortzusetzen. Ohne Simon lag die Verantwortung allein bei ihr, und ohne Simon war sie ein einsames, gebrochenes und sehr ängstliches Schilfrohr.
    Doch der Rabbi, auf den Sir Rowley sehr schnell eingeredet hatte, war nicht bereit, sie auch nur in die Nähe von Simons Leiche zu lassen. »Nein«, sagte er jetzt. »Auf gar keinen Fall, und erst recht keine Frau.«
    »Dux femina facil«
, warf Prior Geoffrey helfend ein.
    »Sir, der Prior hat Recht«, flehte Rowley. »In dieser Angelegenheit leitet eine Frau unser Unternehmen. Die Toten sprechenzu ihr. Sie sagen ihr, wie sie gestorben sind, woraus wir möglicherweise schließen können, wer für den Tod verantwortlich ist. Wir schulden es dem Verstorbenen, der Gerechtigkeit, dass wir herausfinden, ob der Mörder der Kinder auch sein Mörder war. Um des Herrn willen, Mann, er hat sich für Euer Volk eingesetzt. Wenn er ermordet wurde, wollt Ihr dann nicht, dass sein Tod gerächt wird?«
    »Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor.«
Der Prior kam erneut zu Hilfe: »Möge dereinst aus meinen Gebeinen ein Rächer erstehen.«
    Der Rabbi verbeugte sich. »Gerechtigkeit ist gut, Mylord«, sagte er, »aber wir haben festgestellt, dass sie erst in der nächsten Welt zu erreichen ist. Ihr sagt, es möge um des Herrn willen geschehen, aber wie können wir dem Herrn gefallen, wenn wir gegen Seine Gesetze verstoßen?«
    »So ein sturer Bock«, sagte Gyltha kopfschüttelnd zu Adelia.
    »Er ist nun mal Jude.«
    Manchmal fragte Adelia sich, wie das jüdische Volk und sein Glaube angesichts einer nahezu universalen und für sie unerklärlichen Feindseligkeit überhaupt hatte überleben können. Heimatlosigkeit, Verfolgung, Erniedrigung, versuchter Völkermord, all das war über das jüdische Volk gekommen – das nur umso hartnäckiger an seiner Religion und seinen

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