Die Totenleserin1
in der Ehe?«
»Eine Erektion ist möglich«, sagte sie schneidend. Zum Teufel mit den Euphemismen. Wieso sollte sie vor den körperlichen Tatsachen zurückscheuen? Wenn er etwas nicht hören wollte, hätte er nicht fragen sollen.
Sie hatte ihn schockiert, das merkte sie ihm an. Aber sie war noch nicht fertig mit ihm. »Glaubt Ihr, Mansur hat sich das ausgesucht? Er wurde als Kind von Sklavenhändlern verschleppt und wegen seiner Stimme an byzantinische Mönche verkauft, die ihn kastrieren ließen, damit er seine hohe Stimmlage behielt. Das ist bei denen so üblich. Er war acht Jahre alt, und er musste für die Mönche singen,
christliche
Mönche, seine Folterer.«
»Darf ich fragen, wie er zu Euch gekommen ist?«
»Er ist weggelaufen. Mein Ziehvater hat ihn in Alexandria auf der Straße aufgelesen und mit nach Salerno gebracht. Mein Vater kümmert sich aus Überzeugung um die Verlorenen und Verlassenen.«
Hör auf, hör auf, ermahnte sie sich. Wieso offenbarst du dich ihm so? Er ist ein Nichts, vielleicht schlimmer als ein Nichts. Dass du dich vorhin so wunderbar mit ihm amüsiert hast, bedeutet gar nichts.
Ein Teichhuhn rief und raschelte im Schilf. Irgendetwas, eine Wasserratte, glitt in den Fluss und schwamm davon, erzeugte kleine Wellen, die im Mondlicht schimmerten. Der Kahn fuhr wieder in einen Tunnel hinein.
Sir Rowleys Stimme hallte darin. »Adelia.«
Sie schloss die Augen. »Ja?«
»Ihr habt in dieser Sache getan, was Ihr konntet. Wenn wir am Haus des alten Benjamin sind, komme ich mit rein und spreche mit Master Simon. Er muss einsehen, dass es Zeit für Euch ist, nach Salerno zurückzukehren.«
»Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Der Mörder ist noch nicht gefunden.«
»Wir umzingeln allmählich sein Versteck. Wenn wir ihn aufscheuchen, könnte er gefährlich werden, ehe wir ihn unschädlich machen. Ich will nicht, dass er einen der Treiber anfällt.«
Die Wut, die Sir Rowley Picot stets in ihr entfachte, entlud sich, heiß und vehement.
»Einen der Treiber?
Ich verfüge über eine
ausgezeichnete
Ausbildung, und ich wurde vom König von Sizilien für diese Aufgabe ausgewählt, nicht von Simon und schon gar nicht von Euch.«
»Madam, ich bin lediglich um Eure Sicherheit besorgt.«
Es war zu spät. Einem Mann an ihrer Stelle hätte er nicht geraten,nach Hause zu fahren. Er hatte sie in ihrer Berufsehre gekränkt.
Adelia fiel ins Arabische, die einzige Sprache, in der sie hemmungslos fluchen konnte, weil Margaret sie nie gelernt hatte. Sie benutzte Ausdrücke, die sie aufgeschnappt hatte, wenn Mansur sich mit dem marokkanischen Koch ihrer Zieheltern stritt, denn nur so konnte sie den Zorn ablassen, den dieser Steuereintreiber in ihr schürte. Sie unterstellte ihm eine unnatürliche Vorliebe für kranke Esel, Hundeeigenschaften, Flöhe, wetterte über seine Verdauung und seine Essgewohnheiten und sagte ihm, wo er sich seine Sorge um sie hinstecken könne. Ob Picot verstand, was sie von sich gab, oder nicht, war unerheblich. Er konnte es sich mehr oder weniger denken.
Mansur stakte grinsend das Boot aus dem Tunnel.
Der Rest der Fahrt verlief schweigend.
Als sie das Haus des alten Benjamin erreichten, wollte Adelia nicht, dass Picot mit hineinkam. »Soll ich ihn zur Burg bringen?«, wollte Mansur wissen.
»Von mir aus bring ihn, wohin er will«, sagte sie.
Als der Flussaufseher am nächsten Morgen kam, um Gyltha davon zu unterrichten, dass Simons Leichnam gerade in die Burg gebracht wurde, dachte Adelia, dass sie laut geflucht hatte, als ihr Kahn an seinem Körper vorbeigefahren war, der mit dem Gesicht nach unten im Schilf bei Trumpington getrieben hatte.
Kapitel Zehn
K ann sie mich hören?«, erkundigte sich Sir Rowley bei Gyltha.
»Man kann Euch in Peterborough hören«, erwiderte Gyltha. Der Steuereintreiber hatte geschrien. »Sie hört einfach nicht zu.«
Sie hörte zu, aber nicht Sir Rowley Picot. Die Stimme, die sie vernahm, war die von Simon aus Neapel, klar und deutlich, und er sagte nichts Bedeutsames, sondern plauderte einfach, wie es seine Art gewesen war, mit seiner hellen, lebhaften Stimme – und zwar im Augenblick über Wolle und ihre Verarbeitung.
»Könnt Ihr Euch vorstellen, wie schwierig es ist, die Farbe Schwarz hinzubekommen?«
Sie hätte ihm gerne erwidert, wie schwer es ihr gerade fiel, sich vorzustellen, dass er tot war, wollte ihm sagen, dass sie den Augenblick hinauszögerte, weil der Verlust zu groß war und deshalb ignoriert werden musste, dass ein
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