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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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ausgelöschtes Leben einen Abgrund offenbarte, den sie nicht gesehen hatte, weil er ihn ausgefüllt hatte.
    Es musste ein Irrtum sein. Simon war nicht die Sorte Mensch, die starb.
    Sir Rowley blickte sich hilfesuchend in der Küche des alten Benjamin um. Waren denn hier alle Frauen wie vor den Kopf geschlagen? Und der Junge auch? Wollte sie ewig nur dasitzen und ins Feuer starren?
    Er wandte sich an den Eunuchen, der mit verschränkten Armen an der Tür stand und hinaus auf den Fluss starrte.
    »Mansur.« Er stellte sich dicht vor ihn, so dass ihre Gesichter auf einer Höhe waren. »Mansur. Der Leichnam ist in der Burg. Die Juden können jeden Augenblick erfahren, dass er dort ist, und ihn begraben. Sie wissen, dass er einer von ihnen ist. Hör zu.« Er packte die Schultern des Mannes und schüttelte ihn. »Sie hat jetzt keine Zeit zu trauern. Sie muss erst den Leichnam untersuchen. Er wurde ermordet, versteht Ihr das denn nicht?«
    »Ihr sprecht Arabisch?«
    »Was soll das denn sonst sein, was ich gerade spreche, du großes Kamel? Rüttle sie auf, sie muss handeln.«
    Adelia legte den Kopf schief und dachte an das harmonische Verhältnis zwischen ihr und Simon, die geschlechtslose Zuneigung und Achtung, Respekt und Humor, eine Freundschaft, wie sie so selten zwischen einem Mann und einer Frau war, dass sie so etwas wohl nie wieder erleben würde. Sie ahnte jetzt, wie es sein würde, wenn sie ihren Ziehvater verlor.
    Sie wurde wütend, warf Simon eine Mitschuld vor. Wie konntest du so unvorsichtig sein? Du warst für uns alle wertvoll. Was für ein unsäglicher Verlust. In einem schlammigen englischen Kanal zu sterben ist so
dumm
.
    Die arme Frau, die er so geliebt hatte. Seine Kinder.
    Mansurs Hand lag auf ihrer Schulter. »Dieser Mann sagt, Simon wurde ermordet.«
    Es dauerte einen Moment, dann sprang sie auf.
»Nein.«
Sie trat Picot entgegen. »Es war ein Unfall. Dieser Mann, der Flusswart, hat zu Gyltha gesagt, es war ein Unfall.«
    »Er hatte die Schuldnerliste gefunden, Frau,
er wusste, wer der Mörder ist.«
Sir Rowley knirschte vor Wut mit den Zähnen, dann sagte er ganz langsam: »Hört mir zu. Hört Ihr mir zu?«
    »Ja.«
    »Er ist verspätet auf Joscelins Fest gekommen. Versteht Ihr mich?«
    »Ja«, sagte sie. »Ich habe ihn gesehen.«
    »Er ist zu der oberen Tafel gekommen und hat sich für die Verspätung entschuldigt. Der Zeremonienmeister hat ihn zu seinem Platz geleitet, aber als er an mir vorbeiging, ist er stehen geblieben und hat eine Tasche an seinem Gürtel getätschelt. Und er hat gesagt … hört Ihr mir zu? Er hat gesagt: ›Wir haben ihn, Sir Rowley. Ich habe die Schuldnerliste gefunden.‹ Er sprach leise, aber das waren seine Worte.«
    »›Wir haben ihn, Sir Rowley‹«, wiederholte Adelia.
    »Das hat er gesagt. Ich habe gerade eben seinen Leichnam gesehen. Die Tasche an seinem Gürtel ist verschwunden. Deshalb wurde er ermordet.«
    Adelia hörte, wie Matilda B entsetzt wimmerte, Gyltha aufstöhnte. Sprachen sie und Picot Englisch? Offenbar.
    »Warum hätte er Euch das erzählen sollen?«, fragte sie.
    »Gütiger Himmel, Frau, wir hatten den ganzen Tag zusammen gesucht. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die verbrannten Listen die einzigen waren. Die verfluchten Juden hätten sie jederzeit haben können, hätten sie nur gewusst, wo sie waren. Chaim hatte sie bei seinem Bankier hinterlegt.«
    »Redet nicht so über sie.« Sie legte ihm eine Hand auf die Brust und stieß ihn zurück. »Redet nicht so. Simon war Jude.«
    »Genau.«
Er packte ihre Hände. »Und weil er Jude war, müsst Ihr jetzt mitkommen und seinen Leichnam untersuchen, bevor die Juden ihn holen.« Er sah ihren Gesichtsausdruck und blieb unerbittlich. »Was ist ihm zugestoßen? Wann? Und daraus können wir vielleicht, wenn wir Glück haben, schließen, wer es war. Das habe ich von Euch gelernt.«
    »Er war mein Freund«, sagte sie, »ich kann nicht.« Ihre Seelerebellierte bei dem Gedanken, und auch Simon würde es ganz und gar nicht behagen, entblößt, befingert, aufgeschnitten zu werden – noch dazu von ihr. Eine Leichenöffnung verstieß auf jeden Fall gegen das jüdische Gesetz. Sie würde sich jederzeit über die christliche Kirche hinwegsetzen, aber um des lieben Simon willen würde sie nicht gegen die Vorschriften des jüdischen Glaubens verstoßen.
    Gyltha trat zwischen sie und blickte dem Steuereintreiber forschend ins Gesicht. »Soll das heißen, Master Simon wurde von demselben Mann ermordet, der die Kinder

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