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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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entwickeln schienen.
    Das Skalpell ist dein ständiger Begleiter, mit dem du dich am besten schnell anfreundest, damit er sich nicht gegen dich wendet.
    Manchmal fragte Zoe sich, ob ihr Großvater sich seine weisen Sprüche nur ausgedacht hatte, um seiner Enkelin den nötigen Respekt vor den Geräten einzubleuen. Sicher hatten sie dazu beigetragen, dass Zoe früh eine besondere Affinität zu Skalpellen entwickelte. Beim Anblick der scharfen Messer kribbelte ihr Beckenboden und erinnerte sie an zahlreiche Wunden, die sie sich in ihrer Anfangszeit damit zugefügt hatte. Finger und Unterarme waren bei der Arbeit besonders gefährdet. Viele Schnitte hatten Narben hinterlassen, ein paar davon sogar auf dem Bauch. Zoe betrachtete sie wie bizarre Trophäen. Jede Verletzung trug ihren Anteil am Lernprozess, und mit der Zeit hatte Zoe einen schaurig-schönen Reiz empfunden, sobald sie mit der Klinge abrutschte. Nicht dass sie sich absichtlich verletzen würde, und der Moment, in dem das Skalpell in ihre Haut schnitt, war alles andere als angenehm. Auf eigenartige Weise genoss sie den Heilungsprozess. Als wollte etwas in ihr verdeutlichen, dass ihre Arbeit zwar ausschließlich mit totem Fleisch einherging, ihr Leben jedoch nicht. Sie selbst verkörperte das adäquate Gegenstück zu den Leichen auf ihrem Sektionstisch.
    Zoe betrachtete zufrieden das Ergebnis. Die Wundränder waren blassrosa, als hätte man den Schorf von einer verheilten Hautabschürfung gezogen. Doch der Schein trog. Sobald weiterhin Luft an das Gewebe kam, würde sich das Fleisch wieder dunkel verfärben. Sie drückte prüfend dagegen. Damit ließ sich arbeiten.
    Was sie von den Amputaten abgeschnitten hatte, fehlte nun an den Stümpfen. Dort, wo die Epidermis großflächig abgerissen war, klaffte fleischige Lederhaut, stellenweise Unterhaut. Einst rosige Bindegewebsfasern lösten sich in schleimige Reste von subkutanem Fett auf wie zertretenes Gras am Uferrand eines umgekippten Tümpels. Obwohl die Leiche gut gekühlt war, nahm der Prozess seinen Lauf. Zoe tupfte die aufgeweichten Gewebereste ab und griff nach einem Tiegel mit teintfarbenem Kitt aus ihrem Theaterschminkesortiment. Mit einem Spatel kaschierte sie die hautlosen Stellen und strich die Übergänge glatt.
    Der beißende Geruch von Cyanacrylat erfüllte den Raum, sobald Zoe die faustgroße Tube aufgedreht hatte. Sie zog sich den Mundschutz über die Nase, damit die Dämpfe sie nicht benebelten. Abgesehen davon, brannte die chemische Substanz in ihrer Nase. Sie trug eine dünne Schicht des Sekundenklebers auf die herausstehende Gelenkpfanne an Lars’ Hüfte auf, wobei sie die umstehenden Muskel- und Fleischbereiche aussparte, weil die Flächen inzwischen zu nachgiebig waren. Der Kleber würde zumindest die Knochen fixieren und einen besseren Halt für die späteren Näharbeiten bieten.
    Ursprünglich war Cyanacrylat entwickelt worden, um in Kriegszeiten größere Verletzungen zu verkleben. Dank seiner Eigenschaft, massive Blutungen zu stoppen, eine effiziente Notfallbehandlung, die zahlreiche Menschenleben gerettet hatte. Obwohl die Substanz biologisch abbaubar ist, wurde der Klebstoff aufgrund von auftretenden Hautirritationen nicht für zivile Zwecke freigegeben. Erst eine weiterentwickelte Variante nahm kurz vor der Jahrtausendwende als Sprühverband Einzug ins Gesundheitswesen. Für Zoes Zwecke genügte jedoch die ursprüngliche Variante, die sie in Großtuben im Baumarkt kaufen konnte.
    Sie umklammerte das Beinamputat mit beiden Armen und trug es wie einen Holzbalken zur Bahre. Aus den Knien holte sie sich genügend Schwung, um das Körperteil an seinen angestammten Platz zu wuchten. Jetzt zählte die richtige Mischung aus Geschick und Motorik, damit sie die Gelenkkapsel sofort und ohne großen Schaden in ihre Schale positionierte. Ein falscher Ansatz, und der Klebstoff würde jede Korrektur vereiteln. Schräg über den Tisch gebeugt, hielt Zoe das Bein, ohne es abzulegen, an die Hüfte und lugte in den verbleibenden Zwischenraum. Ein gleißender Schmerz zog über ihr gestrecktes Knie in ihre gebeugte Hüfte. Die Überdehnung hatte ihren Ischiasnerv überfordert. Sie presste einen Fluch zwischen den Lippen hervor, behielt aber stur ihre Haltung bei. Was sie hier veranstaltete, glich der Präzisionsarbeit eines Bauarbeiters. Tatsächlich gelang es ihr auf Anhieb. Der Knochen schnappte in die Gelenkpfanne, wie ein Knarrenschrauber die Mutter griff.
    Zoe stieß die angehaltene Luft aus, als sie

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