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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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So etwas konnte übel enden. Manchmal war sogar Zoe mit ihrem Latein am Ende, nämlich dann, wenn sie die Überreste eines Unfallopfers mit Hilfe einer Schaufel in den Transportsarg befördern musste.
    Oder man verfügte über eine gehörige Portion Glück. Als Dreizehnjährige war Zoe auf dem Jahrmarkt bei voller Fahrt aus der Raupe hinauskatapultiert worden, weil sie so cool wie die anderen Teenager unbedingt stehend fahren wollte. Dummerweise hatte sie sich mit einer Hand an dem heruntergeklappten Verdeck des Fahrgeräts festgeklammert, das irgendwann mit voller Wucht hochschoss. In solchen Augenblicken gefriert das Leben zu einem Standbild. Man möchte nach Belieben darin herumlaufen und alles genauestens betrachten. Die gefühlte Ewigkeit dauerte gerade mal einen Sekundenbruchteil und – zack, der Aufprall folgte sogleich. Wie durch ein Wunder hatte Zoe den Unfall damals ohne einen Kratzer überstanden, wenn man von ein paar Prellungen am Hinterteil und einem ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen Selbstwertgefühl absah.
    Für Lars war es wohl Glück im Unglück gewesen, falls es so etwas überhaupt gab, dass er zum Zeitpunkt des Absturzes schon tot war. An einem abgerissenen Arm starb man nicht unbedingt. Dafür bekam man das deutlich mit. Garantiert – auch unter Schock. Bevor der Schmerz einsetzte, sollte man günstigerweise entweder das Bewusstsein verloren haben oder ärztlich versorgt sein. Zugegeben, die nächste Zwangsamputation hätte Lars vermutlich bewusstlos werden lassen, wäre er nicht schon tot gewesen.
    Dieses Mal brauchte Zoe ihre beiden Hände. Lars’ rechtes Bein lag im verkehrten Winkel neben seinem Torso. Ein grotesker Anblick. Es war aus dem Hüftgelenk gerissen worden wie die überdimensionale Keule eines Brathähnchens. Zoes Magen hielt nichts von unpassenden Assoziationen, sondern knurrte vehement.
    »Sorry, Lars, ich hätte vorher wohl essen sollen.«
    Das Bein wog mindestens zwölf Kilogramm. Sie wuchtete es ebenfalls auf den Rollwagen und untersuchte die Amputationsstelle. Wieder bedeckte ein gräulich verfärbter Hautlappen die Wunde. Wegen der relativ großen Abrissfläche war eine aufwendige Replantation nötig. Für einen Chirurgen wäre der Zustand des Amputats ein Alptraum gewesen. Zerfetzte Haut, abgerissene Sehnen, zahlreiche Knochenabsplitterungen und Quetschungen wären für eine Replantation bei einem Lebenden denkbar ungünstig. Eine glatte Amputationsstelle hingegen wie durch einen Unfall an einer Schneidemaschine bot eine deutlich bessere Voraussetzung für eine wiederherstellende Operation. Schließlich sollte die Gliedmaße später auch funktionieren.
    Lars brauchte sein Bein nicht mehr. Den Arm auch nicht. Und Zoe war keine Chirurgin, sondern Thanatologin. Also war alles im grünen Bereich, nicht einmal eine besondere Herausforderung. Nachdem sie den Leichensack unter Lars’ Torso entfernt hatte, wusch sie den Toten zunächst gründlich. Dabei fiel ihr Blick immer wieder auf den Brustkorb. Eine Leinwand aus graublauer Haut, übersät von sprießenden Haarstoppeln, deren längst überfälliger Rasur der Tod in die Quere gekommen war. Irgendwo zwischen talggefüllten Haarporen musste sich die winzige Einstichstelle befinden. Mit bloßem Auge war die genaue Position nicht auszumachen, dennoch erinnerte sie Zoe an die bevorstehende Probenentnahme an Boris’ Leichnam. Den Gedanken, die Entnahme an Lars vorzunehmen, verwarf Zoe schnell. Dazu fehlte ihr die Zeit.
    Nachdem der Körper gereinigt und eingecremt war, wendete sie sich den Amputaten zu. Sie zog den Tablettwagen mit einem Sortiment von Skalpellen verschiedener Größen und mit Knochensägen heran. Mit einer sichelförmigen Klinge fing Zoe an, die überstehenden Hautlappen zu entfernen. Der schwere Griff des Skalpells fühlte sich angenehm an, die stählerne beidseitig geschärfte Klinge wurde eins mit Zoes Hand und zeichnete eine schwarze Linie auf die bleiche Haut. Durchtrennte sauber alle drei Hautschichten wie ein Stück Butter: zunächst mit leichtem Druck die eigentlich widerstandsfähige Epidermis, dann die Bindegewebsfasern der Lederhaut, bis das Skalpell beinahe behäbig in das subkutane Fett der Unterhaut sackte, wo es Blutgefäße und Nerven durchschnitt. Nur ein Klingenwechsel war nötig, während Zoe das Beinamputat behandelte. So scharf Skalpelle auch waren, so schnell stumpften sie während der Arbeit ab. Die scharfen Chirurgenmesser waren tückische Dinger, die bisweilen ein Eigenleben zu

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