Die Totenmaske
dessen Räuspern davon abhielt.
»Da wäre noch etwas. Wir haben Lilian gefunden. Sie ist in der Stadt.«
»Was?!« Der Schreck ließ Leons Beine weich werden. Er plumpste auf seinen Stuhl zurück und starrte Willi an.
»Sie wurde an der niederländischen Grenze mit einer Gruppe Drogenschmuggler aufgegriffen. Ihr konnte nichts nachgewiesen werden, aber wir haben eine Adresse.«
Leon wischte sich über das Gesicht. Seit über einem Jahr war Lilian spurlos verschwunden. Anfangs hatte ihn die Sorge um sie beinahe um den Verstand gebracht. Bei jeder aufgefundenen Frauenleiche wurde seine Befürchtung größer, es könnte sich um sie handeln. Immer wieder hatte er sich einreden müssen, dass nicht jeder Vermisste irgendwann als Wasserleiche angeschwemmt werden musste. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, sich in Geduld zu üben, nicht dauernd darüber nachzudenken, was Lilian zugestoßen sein könnte. Ausreißer verfügten nicht selten über ein großes Geschick, wenn es darum ging, nicht gefunden zu werden. Jetzt plötzlich zu hören, dass sie lebte, überwältigte ihn mit einer Wucht, die seine Beherrschung auf die Probe stellte. Er verschränkte die Finger ineinander, bis er seine Gelenke knacken hörte.
»Seit wann weißt du davon?« Obwohl er versuchte, es zu vermeiden, klang er vorwurfsvoll.
»Seit einer Woche«, antwortete sein Chef.
Leon atmete hörbar aus und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Hör zu, Leon! Ich habe versucht, einen geeigneten Zeitpunkt abzuwarten. Du steckst mitten in den Ermittlungen. Ich kann dich nicht einfach von dem Fall abziehen«, versuchte Willi, sich zu rechtfertigen.
»Ich habe gedacht, sie wäre tot!«, rief Leon aufgebracht aus.
»Es geht ihr gut.«
Leon schnaubte. »Gut?! Sie treibt sich seit einem Jahr weiß Gott wo rum und wird mit Drogendealern an der Grenze geschnappt!« Leon sprang von seinem Stuhl auf und lief im Zimmer auf und ab. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Die Haut an seinen Beinen spannte, als bestünde sie aus gebündelten Nervenbahnen. Sein Chef hätte ihn sofort informieren müssen, doch letztlich konnte er nichts dafür. Leon war selbst schuld, wenn er sich vom Stress der Vergangenheit wieder einholen ließ. Ausgerechnet jetzt, wo er endlich die Chance bekam, sich einem Fall nach eigenem Ermessen zu widmen! Doch so etwas wie den besten Zeitpunkt gab es ohnehin nicht. Wenigstens blieben ihm noch zwei Tage, bis er wieder nach Birkheim fahren wollte.
»Wo ist sie? Ich muss sie sehen.«
Willi seufzte, als hätte er geahnt, dass es so kommen würde. »In Marienborn. Sie wohnt dort bei einem gewissen … Sören Hellmann.«
Auch das noch! Nicht gerade die beste Adresse in Mainz. In der Nähe lagen die Tatorte einer Reihe Morde an Prostituierten, was die Sache nicht besser machte.
»Jetzt sag nicht, der Kerl ist aktenkundig!« Willis Tonfall hatte seine Befürchtung jedoch längst bestätigt.
»Zuhälterei, Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Er hat mindestens fünf Mädchen laufen, meist aus osteuropäischen Ländern.«
»Verdammt!«, stieß Leon hervor. »Ich brauche die Akte.«
»Leon, ich sag dir das als dein Freund: Du kannst nicht jeden retten. Auch nicht, wenn er dir noch so viel bedeutet. Als dein Vorgesetzter muss ich dich wohl nicht daran erinnern, dass du dich um einen Fall in Birkheim zu kümmern hast. Also, keine Kurzschlusshandlung! Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja, aber niemand kann mir verbieten, sie in meiner Freizeit zu besuchen.« Leon rieb sich mit den Händen über die Oberschenkel.
Willis scharfer Blick erinnerte an einen Wolf. »Wir observieren das Gebäude, Leon. Halte dich wenigsten bedeckt!«
Leon verzog die Miene. Willi hätte beinahe geknurrt. Heiße Wellen der Erregung schwappten über Leon hinweg. Er schluckte einen trockenen Kloß hinunter. Zu wissen, dass Lilian Teil eines der brisantesten Fälle war, mit denen sich die Mainzer Kriminalpolizei herumzuschlagen hatte, zerrte an seinen Nerven. Es war nicht einmal klar, ob sie in Gefahr schwebte oder die Komplizin von Sören Hellmann war. Er hätte einiges darum gegeben, über seine uneingeschränkte Urteilskraft zu verfügen. Aber verdammt, auf so etwas konnte man sich nicht vorbereiten! Da halfen keine erlernten Fallbeispiele oder therapeutischen Tipps. Gefühle folgten ihren eigenen Regeln und waren schon gar nicht bereit, Grenzen zu beachten. Er konnte nur vorgeben, nicht befangen zu sein.
»Ich nehme an, du rollst den Fall über die
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