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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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längst leid, Josh so angefahren zu haben. Doch irgendwie hatte die Anwesenheit des Kommissars sie ungehalten werden lassen. Vielleicht war es dieser taxierende Blick gewesen, mit dem Strater sie und Josh abgeschätzt hatte. Das hatte wahrscheinlich nicht viel zu bedeuten, war eher eine Art Reflex, mit dem Polizisten automatisch auf ihre Gesprächspartner reagierten. Ohne es bewusst wahrzunehmen, musste sie sich jedoch darüber geärgert haben, und Josh war in ihre Schusslinie geraten. Wer sonst?
    Weitere winzige Murmeln rollten hinab, verwandelten ihr Innerstes in eine Kugelbahn. Zoes Wangen fühlten sich heiß an. Wenigstens würde niemand sehen, wie sie errötete – zumal sie es sich selbst nicht erklären konnte. Als unangenehm hätte sie den fremdartigen Gefühlsaufruhr allerdings nicht bezeichnet, dazu ähnelte er zu sehr dem, was sie beim Anhören eines besonders schönen Songs empfand. Sie holte tief Luft und versuchte, sich auf das Haarteil in ihrer Hand zu konzentrieren. Mit einem grobzinkigen Metallkamm zog sie durch die feuchten Haarsträhnen des Skalps. Der scharfkantige Knochenrest an dessen Unterseite rieb über ihre Finger. Sie verlagerte behutsam das Gewicht, damit ihre Handschuhe nicht zerschnitten wurden.
    Wie gewohnt wirkte das Cyanacrylat in Sekundenschnelle, und die Knochensplitter klebten wieder am Schädel. Die lockeren Ränder des Haarteils baumelten an der Schädelplatte. Zoe fädelte einen Faden in eine kleine Gerbernadel und nähte den abgetrennten Hautlappen an die Kopfhaut. Die Übergänge bearbeitete sie mit Camouflage. Die feste Paste auf Öl-Wachs-Basis kaschierte jeden Makel, ob Muttermal oder entstellende Narben, und verwandelte jeden Leichenteint in eine schön getarnte Hautoberfläche. Die Nahtstelle verschwand im Nu, den Rest erledigte Peters wiederhergestellter natürlicher Haaransatz. Sanft massierte Zoe die Camouflage über das gesamte Gesicht, damit kein Übergang mehr zu sehen war. Mit einem weichen Tuch wischte sie das überschüssige Make-up aus den Augenbrauen und Wimpern der Leiche und brachte sie mit einem kleinen Bürstchen in Form.
    »Um deine Augenbrauen hätte dich so manche Frau beneidet«, stellte Zoe fest und betrachtete das fertige Gesicht. »Damit wärst du sicher nicht einverstanden, aber glaube mir, deine Angehörigen werden dankbar sein, wenn ich dich nicht ganz so emomäßig frisiere. Ich meine, was bringt es dir jetzt noch, melancholische Todessehnsucht zu demonstrieren?« Sie klopfte dem Toten kumpelhaft auf die Schulter. »Wenigstens zum Abschied solltest du deiner Familie einen vollständigen Blick auf dein Gesicht gewähren.«
    Sie kämmte die lange Ponysträhne glatt, drapierte sie schräg über dem Gesicht des Toten und fixierte das Ganze mit Haarlack. Immerhin behielt sie damit ansatzweise Peters Style bei.
    Die friedliche Schönheit der Schlafenden ergriff Zoe immer wieder aufs Neue, manchmal mehr als andere Male. Peter Suhr wäre ihr möglicherweise sogar sympathisch gewesen, wenn sie sich unter anderen Umständen kennengelernt hätten, wenn er nicht mit Boris befreundet gewesen wäre, wenn er damals nicht tatenlos dabeigestanden hätte … wenn … wenn.
    Der Tod ließ alle Einwände ins grenzenlose Nichts laufen, machte sie so belanglos wie einen vergänglichen Windhauch. Das Leben war endlich. Danach gab es keine Gelegenheit mehr, für Ordnung zu sorgen. Versäumtes verharrte auf ewig im Chaos. Sie nahm sich vor, nachher Josh anzurufen, ihn zu fragen, ob alles okay bei ihm wäre. Er würde sich darüber wundern, weil es sonst nicht ihre Art war. Vielleicht würde er sich ein bisschen darüber freuen.
    *
    Wenige Stunden später saß Leon im Wagen auf dem Weg nach Marienborn, wo Lilian sich in der Wohnung von Sören Hellmann aufhalten sollte. Laut Akte war Hellmann mehrfach wegen verschiedener Kleindelikte vorbestraft. Zuhälterei konnte ihm bislang nicht nachgewiesen werden, weil er sein Gewerbe nach der neuen Masche der Loverboys ausübte. Er täuschte jungen Mädchen skrupellos die große Liebe vor, um sie später zur Prostitution zu zwingen. Für gewöhnlich sagten die Mädchen aus, dass sie freiwillig anschaffen gingen. Es war schwer vorstellbar, dass die selbstbewusst wirkende Lilian auf falsche Schmeicheleien eines Schönlings hereinfiel. Doch die Zeit veränderte jeden, und mit Hilfe von Drogen war es nicht schwer, ein nach Aufmerksamkeit verlangendes Mädchen zu überzeugen.
    Er bog in eine Siedlung mit Mehrfamilienhäusern ein.

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