Die Totenmaske
Regelmäßig fuhren die Kollegen von der Streife hier Einsätze wegen familiärer Gewalt und Jugenddelikten. Auf einem nahegelegenen Spielplatz war vor ein paar Monaten die verstümmelte Leiche eines Mannes gefunden worden. Die beiden Angeklagten warteten derzeit auf ihr Urteil. Der Tat war ein Streit über Geld aus Drogengeschäften vorangegangen, als Mordwaffe hatte ein Schraubenzieher gedient. Leon schüttelte den Kopf. Seltsamerweise musste er ausgerechnet jetzt an Zoe Lenz denken, die sich vermutlich einer derart verstümmelten Leiche vollkommen souverän widmen würde. Sie war so erfrischend anders.
Leons Herz wurde schwer bei dem Gedanken, Lilian ausgerechnet hier wiederzusehen. Anderseits war es typisch für sie. Egal, wo auf der Welt sie sich aufhalten mochte: Leon konnte davon ausgehen, dass es sich bei diesem Ort in irgendeiner Form um einen sozialen Brennpunkt handelte. Lilian zog den Ärger an wie eine verletzte Maus die Katze. So war es immer schon gewesen, besonders nachdem sie von zu Hause ausgerissen war. Diese Tatsache war nicht spurlos an Leon vorübergegangen. Schuldgefühle lagen ihm wie ein Stein im Magen. Er fühlte sich für sie verantwortlich. Auch wenn er es sich nicht gern eingestand, stellte ihr Verschwinden einen der Gründe dar, weswegen er sich so für die Aufklärung von Kapitalverbrechen oder Drogendelikten engagierte. Willi lag nicht so falsch, wenn er Leon auf sein Helfersyndrom hinwies. Er steigerte sich tatsächlich häufig bis zur Selbstaufgabe in die Fälle hinein, weil er glaubte, wiedergutmachen zu können, was er bei Lilian versäumt hatte.
Wie erwartet, fand Leon nur auf einzelnen Klingeln Namensschilder, als er vor dem vierstöckigen Haus stand. Die drahtdurchzogene Scheibe der Eingangstür kennzeichneten zahlreiche Risse. Aus den zerbeulten Briefkästen quollen Werbeprospekte, deren Vorgänger gelblich verwittert über die abgetretene Grünfläche vor dem Haus verteilt waren. Er betätigte wahllos mehrere Klingelknöpfe. Die metallene Haustür öffnete sich mit einem Summen. Gleichzeitig ertönte das Schnarren abgerissener Wortfetzen aus der defekten Gegensprechanlage. Im Hausflur roch es nach Urin und abgestandenem Zigarettenrauch. Nur jede zweite oder dritte Deckenbeleuchtung funktionierte. Wenigstens war es kühl. Leon brauchte mehrere Anläufe, bis einer der Mieter, die er durch sein Klingeln an die Tür gelockt hatte, ihm sagen konnte, in welcher Wohnung Sören Hellmann vermutlich lebte. Genau konnte es keiner sagen.
Im obersten Stockwerk machte er vor einer der schäbigen Wohnungstüren halt. Dahinter ertönte Rockmusik. Die Klingel war abgestellt oder funktionierte nicht. Ein ungutes Gefühl beschlich Leon. Er griff an sein Halfter und öffnete es, um notfalls seine Pistole ziehen zu können. Sein Klopfen hallte durch den Gang. Nach einer Weile erstarb die Musik, und die Tür wurde geöffnet. Das hohlwangige Gesicht eines Mannes lugte durch den Spalt, den Arm lässig gegen den Rahmen gestemmt. Eine tätowierte Spinnwebe prangte an seinem Hals, zog sich über seine Schulter und verlor sich im flusigen Achselhaar, aus dem Schweißgeruch strömte. Hinter ihm flackerte ein Licht in der Dunkelheit der Diele. Unbestimmbare Geräusche deuteten auf mindestens eine weitere Person in der Wohnung hin.
»Sind Sie Sören Hellmann?«, fragte Leon, obwohl keine Ähnlichkeit bestand.
»Der ist nicht da.«
»Ich möchte zu Lilian Strater. Sie wohnt doch hier, oder?«
Wie er seinem Chef versprochen hatte, ließ Leon seine Dienstmarke stecken. Gar nicht so einfach, damit aufzuhören, Polizist zu sein. Eigentlich sogar unmöglich.
»Ich kenne niemanden, der so heißt. Sie müssen sich in der Tür geirrt haben. Hier ist niemand außer mir.«
Bevor ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen werden konnte, steckte Leon einen Fuß dazwischen. »Willst du mich verarschen, Mann?! Ich höre doch, dass jemand in der Wohnung ist!« Leon drückte gegen die Tür. Der Mann taumelte zur Seite.
»Lili?«, rief Leon in den Flur.
Ungeachtet der verdatterten Miene des Tätowierten durchquerte er die Diele und betrat kurz darauf den Wohnraum.
Die zierliche Gestalt einer jungen Frau richtete sich schwerfällig vom Sofa auf. Ein unterdrücktes Stöhnen drang über ihre Lippen wie bei jemandem, der Schmerzen verbergen wollte. Sie schlang die Wolldecke bis zur Brust um ihren Körper und fröstelte trotz sommerlicher Temperaturen. Ihr Blick streifte Leon flüchtig, das kurze Aufflammen von Freude
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