Die Traene des Drachen
sie, dass der Wundschmerz im Vergleich zum Vorabend deutlich nachgelassen hatte.
Elea sah sich um. Zu ihrer Linken erstreckte sich ein Wald aus Laubbäumen, deren nahezu nacktes Geäst einen trostlosen Anblick bot. Die Äste trugen eine dünne pudrige Schneeschicht ebenso wie der Boden. Zu ihrer Rechten, in östlicher Richtung, erstreckte sich wieder eine riesige steppenähnliche Ebene, wie sie sie auf ihrer Reise nach Moray schon viele Tage lang durchritten hatten. Und direkt vor ihr eröffnete sich ein Ehrfurcht gebietender Blick auf den Akrachón in seiner gigantischen Höhe. Er war schon sehr nahe. Ein Tag noch oder noch einen halben mehr, dann würden sie das Gebirge erreichen. Jetzt erst – in dieser Entfernung – war es Elea möglich zu erkennen, dass der Akrachón nicht nur eine Gebirgskette war, die aus schwindelerregend hohen Bergen bestand, sondern dass sich davor auch wesentlich niedrigere Gebirgszüge entlang zogen. Diese Entdeckung machte Elea Hoffnung, dass sie vielleicht die Berge gar nicht so hoch hinaufklettern müssten, um den Drachen zu finden. Vielleicht hielt er sich in einer der niedrigeren Berge auf? Ihren Blick immer noch auf das Gebirge gerichtet und in ihren Gedanken versunken, vernahm Elea plötzlich ihren Namen. Finlay kam auf sie zu und hielt irgendein süßes Gebäck in der Hand. „Jadora meinte, ich soll Euch Gesellschaft leisten, bis die Zelte stehen. Und das hat er mir für Euch mitgegeben.“ Elea ergriff sogleich den Kuchen, da sie in dem Moment, als sie ihn erblickte, einen Bärenhunger verspürte. Es dauerte nicht lange, da hatte sie ihn sich auch schon einverleibt, sodass Finlay sich sofort wieder zu Jadoras Gepäck begab und ihr noch ein zweites, wesentlich größeres Stück brachte. Elea konnte nicht umhin, mit vollem Mund zu bemerken: „Jetzt sorgen sich schon drei Männer um mein leibliches Wohl. Meine beiden Brüder waren dagegen immer darum bemüht, mich vom Essen abzuhalten, weil sie Angst hatten, ich würde ihnen alles wegessen.“
„ Ich muss Euch korrigieren: drei Männer und ein Pferd.“ Elea sah Finlay fragend an. Dieser deutete grinsend auf etwas hinter ihr. Daraufhin drehte das Mädchen sich um und sah direkt auf Shonas Maul, die sich ihr scheinbar genähert hatte, ohne dass sie es bemerkt hatte. Die Stute begann, an Eleas Kapuze zu knabbern und gab leise Wieherlaute von sich. Liebevoll streichelte sie ihre lange kupferrote Mähne.
„ Als wir rasteten, blieb sie die ganze Zeit über bei Euch stehen und schien über Euch zu wachen. Jadora musste ihre Haferration zu ihr bringen, sonst hätte sie, so wie es aussah, auf sie verzichtet.“ Elea musste darüber lächeln und dankte dem Pferd für seine Fürsorge. Sie schlug Finlay vor, sich etwas die Füße mit ihr zu vertreten, während die anderen das Lager errichteten. „Jadora hat Euch also alles über mich erzählt.“
„ Ja, das hat er. Er hat auch erzählt, dass Ihr Maél tatsächlich dazu gebracht habt, bei einer Geburt dabei zu sein. - Wisst Ihr, was mich an alldem am meisten wundert? Es sind nicht Eure außergewöhnlichen Gaben, sondern die Wandlung, die ihr in Maél bewirkt habt.“ Finlay machte ein Pause, weil er von Elea eine Erwiderung auf seine Bemerkung erwartete. Sie sah ihm jedoch nur flüchtig in die Augen und richtete dann ihren Blick wieder geradeaus. Also blieb ihm nichts anderes übrig als fortzufahren: „Ihr werdet es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber an dem Tag, an dem ich Euch das erste Mal sah – in der Thronhalle, in Belanas Schlepptau – da hatte ich schon das unerklärliche Gefühl, dass Ihr etwas Besonderes seid, und ich meine damit nicht Eure außergewöhnliche Schönheit. Ich verspürte schon damals das unerklärliche Bedürfnis, Euch beschützen. Nein! Es war viel mehr als nur ein Bedürfnis. Es war wie eine innere Stimme, die mir sagte, es wäre meine Bestimmung, Euch auf Eurem Weg, wo auch immer er Euch hinführen mag, zu begleiten.“ Elea blieb abrupt stehen, nahm seine Hände in ihre und sah ihm traurig in die Augen. Sie konnte die Tränen nur mit Mühe zurückhalten. „Finlay, ich danke Euch, ich danke dir. Wir können doch du zueinander sagen, meinst du nicht auch?“ Finlay nickte mit dem Hauch eines Lächelns in den Mundwinkeln, in dem zugleich Freude und Melancholie lag. Er unterstrich seine Zustimmung, indem er ihre Hände sanft drückte. „Finlay, ich spüre auch, dass du bei dem, was noch auf mich zukommen wird, eine wichtige Rolle spielen wirst. Du
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