Die Traene des Drachen
Sie schien so nah, als wäre sie Teil ihrer Gedanken geworden. Andererseits war sie jedoch von so tiefem Klang und von solcher Fremdartigkeit, als käme sie aus einer anderen Welt. Diese Stimme wiederholte immer wieder dieselben Worte:
„Ich habe lange auf dich gewartet, Elea.“
Der angenehme Klang der Stimme lullte sie so sehr ein, dass sie wieder in diesem wohltuenden Dämmerzustand schwebte. Als ihr Verstand dann endlich doch den Sinn der Worte erfasste und sie ihren eigenen Namen erkannte, überkam sie eine vage Erinnerung an einen Traum, der immer deutlichere Konturen annahm. Mit einem Schlag war sie hellwach. Es war der Traum von ihrem Drachen, der darin mit denselben Worten zu ihr gesprochen hatte. Sofort versuchte sie, ihre Glieder zu bewegen oder zumindest die Augen zu öffnen. Aber ihre Bemühungen waren ohne Erfolg. Wie sollte sie etwas bewegen, was sie nicht spürte?
„ Elea, ich bin der Drache, nach dem du gesucht hast. Ich bin bei dir. Ich bin dein Drache und du bist meine Reiterin. Meine Stimme ist in deinem Kopf. Wir gehören nun auf ewig zusammen. Zwischen uns existiert jetzt ein Band, das untrennbar ist. Ich heiße Arabín. Meine Aufgabe war es, auf dich zu warten. Jetzt bist du hier. Das heißt, dass dem Menschenvolk eine unvorstellbar große Gefahr droht und dass deshalb deine Bestimmung ihren Anfang genommen hat.“
Endlich machte die Stimme in Eleas Kopf eine Pause, sodass die junge Frau das Gesagte verarbeiten konnte. Sie verspürte nicht die geringste Furcht. Der Drache oder was auch immer zu ihr sprach - denn sehen konnte sie immer noch nicht – sprach in einer freundlichen Stimme, der sie sofort Vertrauen entgegenbrachte. Es war also geschehen. Maél und Finlay hatten sie zu ihrem Drachen gebracht. Das unsichtbare Band zu ihm war ebenfalls schon geknüpft. Aber warum spüre ich nicht meinen Körper und kann nicht sehen?
„ Das liegt daran, dass nur dein Geist wach ist, während dein Körper sich noch ausruht. Es dauert nicht mehr lange, dann hast du auch wieder die Kontrolle über ihn.“
Wieso versteht er mich, obwohl ich gar nicht zu ihm spreche?
„ Auch diese Frage kann ich dir beantworten. Ich kann deine Gedanken in meinem Kopf hören, so wie du meine gerade in deinem hörst. Dies ist unserem Band zu verdanken. Deine Ausbildung als Drachenreiterin beginnt erst, wenn wir den Akrachón verlassen haben. Du wirst dann auch lernen, deine Gedanken vor mir zu verbergen. Dies ist dir im Moment noch nicht möglich. Ich hingegen bin durchaus in der Lage, Gedanken, von denen ich glaube, dass du sie nicht kennen solltest, vor dir verborgen zu halten.“
Das hat mir ja gerade noch gefehlt! Nicht nur dass ich mich mit Tieren verständigen kann! Jetzt höre ich ständig eine Stimme in meinem Kopf. Elea vernahm plötzlich ein merkwürdig klingendes Brummen, das dem Rhythmus nach zu urteilen ein Lachen gewesen sein musste. Na prima! Jetzt lacht er offenbar auch schon über mich!
„ Du hast richtig geraten. Auch Drachen können lachen. Du kannst jetzt ruhig aufhören, in der dritten Person von mir zu sprechen. Elea, ich weiß schon sehr viel über dich. Während dein Bewusstsein ebenso wie dein Körper geschlafen hatte, konnte ich über das Band, das zwischen uns geknüpft wurde, dein Wesen kennenlernen. Ich kenne jetzt deine Stärken und Schwächen. Du besitzt eine sehr ausgeprägte empathische Gabe. Du kannst die Gefühle von Lebewesen verstehen, du kannst dich regelrecht in sie hineinversetzen und sogar ihre Gefühle selbst fühlen. Außerdem hast du einen außerordentlich starken Willen, der dir in deinem Leben sicherlich schon häufig geholfen, dich aber vielleicht auch schon in Schwierigkeiten gebracht hat. Du bist mitfühlend, hilfsbereit, mutig und du hasst es, Angst zu zeigen, obwohl du in letzter Zeit viel Angst verspürt hast. Das konnte ich deutlich fühlen. Du kannst aber auch stur, rebellisch, unvernünftig und ungeduldig sein. Was mir allerdings am meisten Sorgen bereitet, Elea, ist die Tatsache, dass mit deiner Angst auch fast immer großer körperlicher Schmerz verbunden war. Unser Band erlaubt mir jedoch nicht zu sehen, welche Ereignisse, diese Schmerzen ausgelöst haben. Und noch etwas bereitet mir Kopfzerbrechen: An dir haftet etwas Magisches. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, du erscheinst mir wie ein Gefäß, das die Fähigkeit besitzt, eine Magie in sich aufzunehmen. Ich habe allerdings nicht die geringste Ahnung, von welcher Art diese Magie ist. Sie scheint
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