Die Traene des Drachen
mir von außergewöhnlicher Kraft zu sein. Deshalb musst du mir alles über dich und über die Geschehnisse erzählen, mit denen deine Bestimmung, mich zu finden, ihren Anfang genommen hat.“
Elea war sprachlos, was sie ja im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich war, da sie nicht nur nicht einen einzigen Körperteil, sondern nicht einmal ihre Zunge bewegen konnte. Der Drache hatte ihr in kürzester Zeit haargenau ihre Wesenszüge dargelegt und dies, ohne dass sie ein Wort darüber verloren hatte. Wenn Elea jetzt ihren Körper gespürt hätte, hätte sie vor lauter Befremdung wieder einmal gegen einen Kloß in ihrer Kehle anschlucken müssen. Aber dies blieb ihr glücklicherweise aufgrund ihrer momentanen Körperlosigkeit erspart. Bevor sie jedoch von ihrem Leben gedanklich erzählen wollte, stellte sie dem Drachen noch eine Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf den Fingernägeln brannte: „Wieso weißt du durch unser Band so viel über mich, aber ich nichts über dich?“
„ Das weiß ich nicht. Auch wenn Drachen als sehr weise gelten, sind sie nicht allwissend. Ich hätte aber eine Vermutung. Drachen unterscheiden sich nicht sehr in ihrem Wesen voneinander. Das was Menschen über sie sagen, trifft im Grunde genommen auf alle zu. Wir werden aber zweifelsohne an einem anderen Ort und zu gegebener Zeit noch Gelegenheit haben, in der ich dir von meinem Leben erzählen kann.“
Elea musste sich wohl oder übel mit dieser Antwort zufrieden geben. Also begann sie mit ihrer Erzählung, indem sie ganz von vorne anfing, damit ihr auch ja nichts Wichtiges entgehen konnte. Sie erzählte dem Drachen, wie sie als Baby zu Albin und Breanna kam. Sie schilderte ihre körperlichen Besonderheiten und ihre Gaben, die zunächst noch nicht so stark ausgeprägt waren. Von diesem Abschnitt ihres Lebens, der im Vergleich zu den letzten beiden Monaten vollkommen unspektakulär verlief, hatte Elea recht schnell berichtet. Weil sie immer noch keine Kontrolle über ihre geschlossenen Lider hatte, entging ihr, wie der Drache stutzte, als sie von ihrem Mal erzählte. Er unterbrach sie jedoch nicht. Er ließ sie einfach reden. Die Erzählung, die ihr neues Leben betraf, welches mit Albins Offenbarung ihrer geheimnisvollen Herkunft und der rätselhaften Hinterlassenschaft ihrer leiblichen Eltern begann und schließlich in ihrer Entführung durch Maél gipfelte, fiel wesentlich umfangreicher aus. Elea schilderte nicht nur die vorwiegend schrecklichen Erlebnisse auf der Reise nach Moray. Sie breitete auch ihre komplette Gefühlswelt vor dem Drachen aus. Sie erzählte von dem Hass, den sie anfangs Maél entgegenbrachte, und wie dieser urplötzlich in eine immer größer werdende Liebe umschwang. In diesem Zusammenhang erwähnte sie auch die Entfaltung ihrer Gaben, ihre ohnmachtartigen Anfälle und die Theorie, der sich Maél und Jadora diesbezüglich hingaben. Das leidliche Streitthema ihrer Unberührtheit ließ sie ebenso wenig aus. Sie erzählte von Maéls rätselhafter Herkunft und seiner ungewöhnlichen Reaktion auf Blut und Eisen. Besonders ausführlich beschrieb sie Maéls tragische Verbindung mit Darrach. Außerdem schilderte sie die Geschehnisse in Galen. Ihren Aufenthalt auf König Roghans Schloss, vor allem ihre schmerzvolle Unterredung mit Darrach, hatte sie auch rasch dargelegt. Nachdem sie von dem Kampf mit den Wölfen und ihrer Entdeckung in dem Gletscher erzählt hatte, endete ihre Erzählung schließlich damit, wie sie ihn gefunden hatte.
Als Elea damit aufhörte, ihre Gedanken hervorsprudeln zu lassen, hatte sie mit einem Mal das Gefühl, von einer ungeheuren Last befreit zu sein. Es gab nun jemand, der aufgrund des Bandes – ob er nun wollte oder nicht, ob Tier oder Mensch – für sie und ihre Probleme da war.
„ Elea, du bist wirklich eine äußerst sensible, junge Frau. Dein Gefühl täuscht dich nicht. Unser Band beruht auf dem Leitsatz „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. Deine Probleme werden meine sein und umgekehrt. Ich werde aber auch deinen körperlichen Schmerz spüren und teilen, so wie du meinen. Unser Band kann also gleichzeitig ein Segen und ein Fluch sein.“ Der Drache machte wieder eine Pause, worauf sich eine bedeutungsschwere Stille in Eleas Kopf breit machte. Bei seinen letzten Worten hatte sie schlagartig die riesige Armbrust auf dem Drachenturm in Roghans Festung vor Augen. Ihre damals empfundene Beklemmung bei dem Anblick dieser monströsen Waffe war also durchaus berechtigt. Der Drache ging auf
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