Die Tränen der Massai
Bestellungen voraus.« Er lächelte ein wenig selbstsicherer.
»Ich hab’s entweder vergessen oder nie davon erfahren. Aber ganz gleich, diese zwanzig Kisten sind nicht ordnungsgemäß verzeichnet worden.« Kein Wunder, dass der verdammte Oberaufseher durchdrehte. Auf jeder Meile Schienen verschwand mehr Material. Was die Massai nicht stahlen, schafften die Kulis beiseite, um ihren Frauen Geschenke zu machen. »Ich werde mit ihm darüber sprechen müssen.«
»Ich denke, es ist alles in Ordnung, Sahib.«
»Hm.«
»Vielleicht möchten Sie einen Becher
Chah?«
Colvan schaute auf die Uhr. »Ja, Gupta.« Der Ritt zu dem verdammten Depot in N’Erobi konnte bis zum Nachmittag warten.
Gupta brachte Colvan einen kleinen Becher mit starkem schwarzem Tee. Der Ingenieur nahm ihn ohne ein Wort entgegen und trug ihn zu einem Stapel Schwellen, auf dem er sich seufzend niederließ. Er griff nach seiner Pfeife, bevor er sich erinnerte, dass er den letzten Rest Tabak schon vor Tagen aufgebraucht hatte. Colvan sah sich über den Rand seines Bechers hinweg um. Es war ein bedrückender Anblick, der sich ihm da bot. In all den Jahren seiner Kindheit, in denen er mit seinem Vater unterwegs gewesen war, einem Ingenieur, der den größten Teil seines Lebens damit verbracht hatte, an gottverlassenen Orten etwas zu bauen, hatte er nichts so Trostloses gesehen. Als er ’96 angefangen hatte, für die Uganda Railway Commission zu arbeiten, hatte sich das Gleisende nur dreiundzwanzig Meilen von der Küste entfernt befunden. Das Land war damals schon trocken wie Zunder gewesen. Als sie die Strecke dann langsam über das mit Dornengebüsch überzogene Land bis zum Steilabbruch weitergebaut hatten, hatte es nicht einmal mehr Küstenschauer gegeben. Mombasa war trocken gewesen, aber das Binnenland war noch erheblich ausgetrockneter. Nun war der Regen schon zwei Regenzeiten lang ausgeblieben. Hunderte von vertrockneten Kadavern bestätigten, dass etwas Schreckliches im Gange war. Selbst die Trockenlandbäume verloren ihre wenigen Blätter. Es gab Hunger von Voi bis zum Victoriasee. Nirgendwo entlang der Strecke waren noch frische Vorräte zu erhalten. Der bereits schwer überlastete Lokomotivenverkehr zur Küste und zurück ins Binnenland wurde noch weiter belastet mit Lebensmitteltransporten für die fünftausend Kulis, die quer durch die gesamte Breite des Ostafrika-Protektorats arbeiteten.
Lachen erklang vom Hügel im Norden. Die Massaifrauen waren auf dem Weg zum Gleisende. Colvan schüttelte staunend den Kopf. Wie konnten sie lachen? Ein Missionar hatte ihm erzählt, dass in den letzten paar Jahren die Hälfte der Massai gestorben war.
»Pocken, Mr. Colvan. Ja, tatsächlich. Die Massai werden nicht damit fertig. Sie sind zu Tausenden gestorben. Unsere Leute in Machakos erzählen von ganzen Dörfern, die ausgestorben sind. Einfach ausgestorben! Sie haben die Toten den Hyänen überlassen. Und die Rinderpest hat sie den größten Teil ihrer Herden gekostet.« Colvan bekam selten Besuch, besonders von Weißen. Die langweiligen Geschichten des Missionars interessierten ihn nicht sonderlich, aber was der Mann über Trockenheit und Krankheiten sagte, erklärte zumindest die Verwüstung, die er hier jeden Tag zu sehen bekam.
»Gottes Zorn ist über die Massai gekommen, das schwöre ich. Das haben sie nur ihrer Verdorbenheit zu verdanken.«
Der Missionar war ein aufbrausender Mann. Speichel schäumte in seinen Mundwinkeln, als er weitersprach. »Gott straft sie für ihre Sünden, ihre Nacktheit und ihre Vielweiberei. Hurerei! Die Hand des allmächtigen Gottes zeigt sich im Massailand. Es war ein schreckliches Jahrzehnt für die Massai, einfach schrecklich. Möge Gott ihren armen schwarzen Seelen gnädig sein.«
Colvan seufzte abermals und kippte den Rest seines Tees in den Staub, dann kehrte er zurück zu seinem Pferd. Er schwang sich geschickt in den Sattel, warf dem Küchenhelfer den Becher zu und drückte der Stute die Fersen in die Flanken. Sie kanterte hinter einem Frachtwagon über die Gleise.
Das Pferd bäumte sich instinktiv auf, aber das Massaimädchen war bereits unter der Stute, bevor Colvan sie zügeln konnte. Eine Massaifrau in der Nähe stieß ein schrilles Kreischen aus.
Colvan sprang vom Pferd und hob das Mädchen hoch.
»Ai! Ai! Ai!«, jammerte die Frau.
Colvan ignorierte sie, drängte sich durch den Kreis von Frauen und brachte das Mädchen zu dem Schwellenstapel. Man sah der Kleinen nichts an, bis auf einen Schnitt an
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