Die Tränen der Massai
bevor ich den Briten antworte.«
Einer nach dem anderen verließen die alten Männer den Kreis. Naisua sah ihnen nach. Einige nickten Lenana zu. Andere wandten die Blicke ab.
Naisua folgte Lenana in ihre Hütte. »Ich habe ein bisschen gekochte Milch für dich behalten; es wird dir die Morgenkälte aus den Knochen treiben.«
»Meine Knochen. Du machst dir immer Sorgen um meine Knochen.«
»Das muss ich wohl, da du dich selbst nicht darum kümmerst.«
»Hör dich nur reden! Du bist kaum mehr als ein Mädchen, aber du scheuchst den
Laibon
herum, als wäre er ein Kind.«
»Ich bin siebzehn Jahre alt.« Sie goss die Milch in eine Schale.
»Oh. Dieses Massaimädchen zählt die Jahre wie eine Engländerin.«
»Es ist modern. Mr. Mackecknie hat mir die Zahlen beigebracht.«
»Ah, der Missionar. Zumindest ist dein Englischunterricht nützlich.«
»Und ich bin kein Mädchen mehr. Bin ich nicht deine Frau?«
»Das bist du, mein Fohlen, das bist du. Ich necke dich nur, wie üblich.«
»Und ist es nicht meine Pflicht, mich um dich zu kümmern? Hier ist deine Milch.«
»Ai, ai, ai.« Er nahm die Schale, setzte sich auf den Rand der Bettplattform und trank. »Ich weiß nicht, wie ich mich heutzutage um mein Volk kümmern soll«, sagte er traurig.
Naisua kniete sich auf das Rinderfell neben dem Bett. »Ehemann, du kümmerst dich immer um uns. Du benutzt deine große Medizin. Und alle im Massailand wissen von deiner Magie. Erst letzte Woche, als dieser
Morani
von einem Büffel verwundet wurde – deine Fähigkeiten haben ihm das Leben gerettet.«
»Das war ein Kinderspiel. Sogar du, Fohlen, hättest ihn mit dem Wenigen, was ich dir beigebracht habe, heilen können. Nein, ich meinte damit, dass meine Vision vom Weg unseres Volkes immer unklarer wird.«
»Jetzt redest du wieder von den Briten.« Sie legte ihre Hand auf seine, die auf seinem Knie lag.
»Ja. Wenn ich nur Medizinmann wäre, wäre das Leben einfach. Aber der Regierungsbeauftragte will einen Oberhäuptling, der für alle Massai spricht. Was wissen wir schon von Oberhäuptlingen? Das ist nicht unsere Art. Aber die Briten sagen, wir brauchen einen Oberhäuptling, der bei diesen Umsiedlungsangelegenheiten einen Entschluss trifft. Sie beunruhigen mich.«
»Ich weiß. Du bist vor Sorge ganz krank. Aber du bist der
Laibon.
Du wirst schon die richtige Entscheidung treffen.«
»Die Ältesten aus dem Westen sprechen von –«
»Die Ältesten reden und reden, aber sie verstehen nichts.«
»Naisua, erinnere dich an die Geschichte von dem Affen, der seine Brüder für dumm hielt, weil sie nichts anderes von sich gaben als albernes Schnattern? Bist du nicht vielleicht auch so ein Affe, der nichts als Schnattern hört?«
»Ich höre vielleicht Schnattern, aber ich sehe andere Dinge. Ja, das tue ich. Ich sehe, dass der Gouverneur dieses Land haben muss, damit die weißen Bauern kommen können. Wenn er das Land nicht mit Bauern füllt, werden die Eisenbahnleute keine Belohnung für ihre Arbeit erhalten. Ohne Ernte kann die eiserne Schlange nicht ernährt werden. Er wird sich nicht zufrieden geben, bis er bekommen hat, was er will. Oder bevor er es sich genommen hat.«
»Du hast Recht, kleines Fohlen. Es geht um das Land. Die Ältesten aus dem Westen reden von Krieg. Aber was, wenn wir verlieren? Sie denken nur an Schlachten und Ruhm. Die Massai, die
Moran,
machen sich keine Sorgen darüber, dass sie im Zweikampf sterben könnten, aber es geht ums Land. Das Land ist wichtig. Wenn wir es verlieren … Ich kann das einfach nicht riskieren. Wir werden Frieden schließen, im Austausch gegen Land. Ich muss Sir Percy vertrauen.«
»Ja, das konnte ich dir schon im Kreis ansehen. Und ich habe es in deiner Stimme gehört. Ich weiß, dass du gut für dein Volk sorgen wirst.«
»Ah, Naisua, ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht! Aber du wirst mit mir zu den Besprechungen kommen. Du wirst hören, was Sir Percy zu sagen hat.«
»Ich bin immer froh, wenn ich beim
Laibon
sein kann. Aber die Ältesten ärgern sich schon über meine Anwesenheit in den Kreisen. Sie werden wieder anfangen zu klatschen.«
»Wie du schon sagtest, sie reden und reden. Ich will dich an meiner Seite haben. Du musst dich vorbereiten. Du hast ein Schicksal zu erfüllen, kleines Fohlen.«
»Ein Schicksal?«
»Naisua, hör gut zu. Meine Gebete um Hilfe gegen Sendeyos Fluch wurden nicht erhört. Aber Mweiya hat mir eine Vision gesandt. Du wirst ein
Laibon
unseres Klans sein.«
Sie setzte sich auf
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