Die Tränen der Massai
ihrer Stirn, der wahrscheinlich vom Sattelgurt verursacht worden war, als die Stute sie umgestoßen hatte.
Die meisten Frauen jammerten und klagten nun. Einige zerrten an ihrer kahlen Kopfhaut und hinterließen lange, bleiche Kratzer.
Colvan packte das Kinn der Kleinen und bewegte ihren Kopf sanft von einer Seite zur anderen. Ihre Lider flatterten; als sie die Augen öffnete, sah sie Colvan starr an, was auf eine Gehirnerschütterung hindeutete. Aber als er die Hand von ihrer Wange nahm, lächelte sie, was wegen ihrer Zahnlücke noch niedlicher wirkte. Sie sah gesund aus, wenn auch schmal, und ihre Augen leuchteten neugierig.
»Da bist du ja wieder, kleine Muskatnuss! Ich glaube, du bist in Ordnung.« Er zog sie in eine sitzende Haltung hoch, aber die Frauen jammerten weiter.
»Gupta«, rief Colvan, aber Gupta war bereits an seiner Seite. »Ah, da bist du ja. Hol den Koch. Gib dieser Frau ein bisschen
Posho.«
»Selbstverständlich, Sahib.«
»Und gib den anderen auch ein wenig.«
»Ja, Sahib.«
Colvan stand auf, schob die Hände tief in die Taschen und wollte gerade gehen, als ihm auffiel, dass das Mädchen ihn beobachtete. Als er zurückschaute, kroch ihr kleiner Finger schüchtern zum Mundwinkel, wo er bis zum zweiten Gelenk verschwand. Colvan suchte in seinen Taschen und fand die Trillerpfeife, die er benutzte, um die Männer zusammenzurufen. In einer anderen Tasche ertastete er einen festen Gegenstand. Er verbarg seine Hände, indem er dem Mädchen den Rücken zudrehte, und betrachtete die Pfeife und das Kristallprisma, das er normalerweise als Briefbeschwerer benutzte. Er hatte es an diesem Morgen eilig gehabt und das Ding wohl aus Versehen eingesteckt. Nun schloss er die Hand fest um das Prisma und hob sie an das Gesicht des Mädchens. Sie schaute erst seine Hand an, dann sah sie ihm direkt in die blauen Augen.
Colvan öffnete die Hand und ließ einen Regenbogen von Farben auf ihr Gesicht fallen. Die Frauen keuchten, und einige wichen zurück, aber das kleine Mädchen strahlte ihn an. Sie nahm den Finger aus dem Mund, warf Colvan noch einmal einen Blick zu und griff dann vorsichtig nach dem Prisma.
Farben, die man für gewöhnlich nur bei den seltenen Regenbögen des Grasregens sah, strahlten von ihrer kleinen Faust aus. Sie drehte das Prisma hin und her, und es zeigte seine verborgenen Schätze. Sie konnte den Blick nicht mehr davon abwenden.
Als sie zu dem Schluss kam, dass sie alle Farben gefunden hatte, die möglich waren, war der rosafarbene Mann weg.
1911
Ein verrückter Wind fegte die gepeinigten Nordhänge des Mount Kenya hinab. Er riss den Schnee von den ungeschützten Felsen und wirbelte ihn zum eisblauen Himmel hinauf. Von tief drunten auf der Ebene von Laikipia sah der Berg aus, als trüge er ein im Wind flatterndes weißes Baumwolltuch.
Naisua trug die Kalebasse in die Hütte und schloss die Kuhfellklappe fest gegen den Wind, der mehr als nur eine Spur des weit entfernten Schnees mitbrachte. Sofort wurde ihr von der stickigen Luft in der Hütte übel. Sie wartete darauf, dass das feuchte Holz Feuer fing, und spielte dabei zerstreut mit ihrem neuen Perlenhalsschmuck. Ihre drei Schwester-Ehefrauen waren schockiert über ihre mutige Neuerung und forderten sie immer wieder auf, zu dem traditionellen Eisen zurückzukehren.
So etwas gehört sich nicht. Besonders nicht für die Frau des Laibon.
Aber Lenana amüsierte sich nur über Naisuas verrückte Einfälle. Sie experimentierte mit Farben und Möglichkeiten, die Perlen zu fädeln, so dass sie flach um ihren schlanken Hals lagen, wie es die alten Eisenbänder taten. Die Ohrringe waren wichtiger. Sie waren das Zeichen ihrer Stellung als verheiratete Frau, also würde sie sie nicht ersetzen, solange sie den Entwurf nicht vollkommen ausgearbeitet hatte. Aber sie konnte sich schon den Klatsch im
Enkang
vorstellen, wenn sie schließlich auch die neuen Ohrringe anlegen würde.
Ein paar ältere Frauen waren nicht so zurückhaltend. Sie machten sehr deutlich, dass sie Naisua ablehnten. Sie schüttelten die rasierten Köpfe und schnalzten missbilligend.
»Seltsam« – mit diesem Wort beschrieben sie die junge vierte Frau des
Laibon
am häufigsten. Es hatte bereits begonnen, als Naisua noch ein Kind war und darauf bestand, den Sonnenstein des Eisenbahnmanns zu behalten – ein gefährliches, exotisches Ding, das man nicht in den Händen eines so kleinen Mädchens lassen sollte.
Es muss der Tritt von diesem Pferd gewesen sein, der sie auf so
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