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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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Dunkelheit des
Olale,
des Kalbpferchs, der das Vestibül jeder Massaihütte bildete. Als die Klappe hinter ihr wieder zufiel, war die goldene Dämmerung verschwunden. Mit drei großen Schritten gelangte Malaika durch den
Olale-
Raum zur Tür des Wohnraums.
    An einem beinahe niedergebrannten Feuer saß eine geisterhafte Gestalt und rührte in einem Tontopf. Ihr rasierter Kopf erinnerte an einen Schädel, der auf einem Stock hing und wackelte. Malaika erahnte ihr Geschlecht aus dem langen roten Gewand, das die kleine Gestalt wie ein Leichentuch umhüllte. Zu weit gewordene Haut hing an Oberarmen, die so dünn waren wie die Flügel eines Vogels. Die Hände und Finger waren in Ordnung, und sie bewegten sich über dem Kochfeuer mit einer Entschlossenheit, die ihre scheinbare Zerbrechlichkeit Lügen strafte. Sie fügte ihrem Gebräu ein oder zwei Prisen Kräuter und ein paar Flechten hinzu. Spröde, selbstsichere Hände.
    Die Haut ihres Gesichts erinnerte an die alte Lederschürze eines Schmieds – dünn, faltig und abgenutzt wie von dem Glühen, das im Lauf von Jahren am Schmelzofen absorbiert wurde. Tiefe Lachfalten erzählten von ihrem Leben vor der niederschmetternden Herzlosigkeit des Alterns.
    Die alte Frau summte, während sie in ihrem Topf rührte, und ignorierte die Besucherin, die so unhöflich unangekündigt hereingekommen war. Als sie schließlich den Blick hob, verursachte ihr Lächeln noch mehr Falten in dem ledrigen Gesicht und ließ die Augen leuchten – heiße Kohlen unter einer dünnen Schicht grauschwarzer Asche.
    Wie hatte Malaika sich nur zwingen können, von allen Menschen ausgerechnet diese Frau zu vergessen – die Herstellerin von Puppen aus Termitennestlehm? »Kokoo! O Kokoo!«, sagte sie. »Wo bin ich nur gewesen?«
     
    Die Alte hielt Malaikas Kinn sanft in ihrer ledrigen Hand, während sie mit der anderen eine Kompresse aus Leleshwa-Blättern auf den Schnitt über Malaikas Ohr drückte. Der Duft war vage vertraut. Kokoo hatte solche Blätter in Malaikas Kindheit wahrscheinlich häufig benutzt, wenn Malaika mit ihrem Bruder draußen gespielt hatte. Aber nun schob die junge Frau den Gedanken beiseite. Sie musste sich vollkommen darauf konzentrieren, Kokoo zu erzählen, was in ihrem Leben geschehen war, sei sie Isuria verlassen hatte. Es war nicht einfach, das mit Begriffen zu tun, die ihre
Kokoo
verstand. Wie sollte man jemandem, der nie etwas anderes gesehen hatte als die baufälligen Barackensiedlungen in Narok, ein Bürogebäude beschreiben? Wie sollte man die Geschäftigkeit von Nairobi einer Frau beschreiben, die sich nur mit der Weite der Serengeti auskannte? Sie beschloss, bei den einfachsten Dingen zu bleiben: Familie, Zuhause und Aufwachsen. Viele Geschichten, die sie erzählte, hatten mit ihrer Halbschwester Ziada zu tun, die Kokoo nie gesehen hatte, und die Alte zeigte großes Interesse. Sie unterbrach Malaika immer wieder und wollte selbst die banalsten Einzelheiten wissen. Malaika schloss mit der Beschreibung des Hauses in Mwanza mit seinem kleinen Gemüsegarten.
    »Als ich Mama und Hamis zum letzten Mal sah, waren sie immer noch sehr glücklich miteinander.« Ihre Stimme verklang bei den letzten Worten. Eine Last senkte sich auf sie, und die Hütte war plötzlich kalt. Sie wurde von einem schlechten Gefühl erfasst und schauderte unwillkürlich.
    Die alte Frau warf die Blätter wieder in den Topf am Herd und griff nach Malaikas Hand. Malaika spürte, dass etwas Festes in ihre Hand gedrückt wurde. Das Glasprisma hatte die Wärme von Kokoos Körper.
    »Hier. Der Sonnenstein wird dir das Herz wärmen«, sagte sie und versuchte, ihrer Enkelin in die Augen zu schauen. Dann lächelte sie und nickte bestätigend.
    Malaika öffnete die Hand. Ein Heer von winzigen Kokoos wurde von dem Prisma reflektiert. Sie drehte es, fasziniert davon, wie es das Feuerlicht einfing.
    Malaikas Geschichte, die wahre Geschichte, brach heraus wie eine Flut. Sie erzählte ihrer
Kokoo
, wie sie sich mit ihrer Mutter gestritten und wie sie dem Spott und dem Unglück in Mwanza entflohen war und in Nairobi Jai kennen gelernt hatte, diesen Jungen mit der wunderschönen braunen Haut, der geraden Nase und den weichen Lippen, und wie ihr Onkel, der nicht wirklich ihr Onkel war, sie allein in dem Bett in der Ecke gefunden und sich auf sie gestürzt hatte, bevor sie noch richtig wach gewesen war. Wie sie in ihrer schlimmsten Angst erstarrt war – der Angst, vollkommen hilflos gemacht zu werden. Wie sie diese Angst

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