Die Tränen der Massai
hatte sich all diese Jahre, seit sie und ihre Mutter geflohen waren, geweigert, diese Sprache zu sprechen, nicht einmal in Gedanken. In ihrem neuen Zuhause am See hatten sie nie Maa gesprochen. Aber die Wörter musste irgendwo geblieben sein, wenn auch verborgen und verleugnet.
Ihr Klang. Die Ng-Wörter:
Ngoto, ngong, Ngai.
Die Ol-Wörter:
Olchani, oltirpe.
Sie hasste sie. Ihr Mund hatte sie nicht formen, ihre Ohren sie nicht erkennen können. Bis am Abend zuvor. Als die Maa-Wörter davon sprachen, dass Jack in Gefahr sein könnte, hatte sie zugehört. Sie hatte sie eingelassen. Nun polterten sie rücksichtslos durch ihren Kopf und brachten Maa-Erinnerungen zurück. Führten sie ins Dorf zu dieser Hütte. Und zu ihren Schrecken.
Noah hatte sie an der Tür stehen lassen, aber wie konnte sie in diesen rauchigen Raum gehen, in dessen dunklem Inneren alle Arten von Schrecken lauerten? Noah hatte
Olchani
erwähnt, Medizin, und auf ihre Stirn gezeigt. Sie tastete und fand dort eine empfindliche Stelle, die blutverkrustet war.
Erinnerungen. Sie zu leugnen war siebzehn Jahre lang ihre Zuflucht gewesen. Nun drangen sie auf sie ein, rauschten aus ihrer Vergangenheit heran wie das Treibgut der ersten Flut der Regenzeit.
Siebzehn Jahre.
Sie ging einen Schritt auf den Eingang zu und blieb wieder stehen. Ihre Mutter war nackt und weinend durch diese Tür geflohen und hatte Malaika mitgeschleppt. Ein weiterer kleiner Schritt. Jetzt konnte sie das Kuhfell am Eingang berühren. Wenn sie wollte, konnte sie hineingehen, oder sie konnte sich umdrehen und davonlaufen.
Glücklichere Tage erschienen vor ihrem geistigen Auge. Trüb und fern, aber ja, es hatte sie gegeben. Menschen, die sie geliebt hatte. Menschen hatten sie geliebt. Sie hörte wieder die tröstende Stimme ihrer Mutter und ein vertrautes Lied, ein Schlaflied. Ein Massaischlaflied. Es erinnerte sie daran, dass sich der Geist ihrer Mutter selbst an den finstersten dieser finsteren Tage geweigert hatte, Gefangener ihres zerschlagenen Körpers zu sein. Das Schlaflied war ihr Versuch gewesen, das Entsetzen wegzuwaschen, das mit dem brutalen Mann gekommen war, den Malaika nicht »Vater« nennen wollte.
Sie sah ihren Bruder, der bei seinen wilden Kampfspielen versuchte, ein Mann zu sein.
Die sanften Hände einer alten Frau, ihrer Urgroßmutter.
Die Alte,
wie sie die Leute im Dorf nannten. Die Hände, deren Magie den Lehm eines Termitennestes zu einer lebendigen, atmenden Puppe formen konnte. Sie hatten die Macht, diese Puppe zu bekleiden, indem sie verschlissenes
Kanga-
Tuch mit Pünktchenmuster in ein wunderschönes Kleid verwandelte. Die uralten Hände ihrer liebevollen und beschützenden
Bibi.
Malaika dachte als Erstes an das Swahiliwort, wenn sie sich an ihre Großmutter erinnerte.
Bibi.
Aber als kleines Mädchen hatte sie das Maa-Wort
Kokoo
benutzt.
Die Farbe des Himmels wechselte von Rosa zu rötlichem Gold. Malaika konnte sich umdrehen und in die Dämmerung hinausgehen, konnte zu Jack und ihrem zivilisierten Leben zurückkehren. Sie konnte diesen Ort und seine ungebetenen Erinnerungen wieder dorthin schicken, wo sie hingehörten. Vergessen.
Umdrehen. Gehen. Vergessen.
Lautlose, kalte Tränen liefen ihr über die Wangen. Die Tränen der Angst waren versiegt. Sie weinte um die verlorenen Erinnerungen von siebzehn Jahren.
Zuerst hatte es sich angefühlt, als hätte ein Taschendieb sie gestohlen. Jahr um Jahr, Monat um Monat. Aber Malaika wusste, es war kein Taschendieb gewesen, sondern niemand anders als sie selbst. Sie selbst hatte diese Erinnerungen einfach aufgegeben, ein Stück nach dem anderen, und sie hatten ihr nie gefehlt. Jedenfalls bis heute nicht.
Es war einfach gewesen, diese Erinnerungen zu nehmen und sie in einen kleineren und immer kleineren Raum zu falten, bis sie so winzig waren, dass sie ganze Hände voll davon in den Wind werfen konnte, wo sie von ihrem Leben wegflatterten. Wenn sie weg waren, konnten sie die Vergangenheit nicht wiedererwecken. Nun wusste Malaika, dass sie ihr Leben in der Gegenwart geleert hatte, damit sie sich nicht den Tagen ihrer Vergangenheit stellen musste. Sie hatte sich selbst die Kindheit und die Wurzeln genommen.
In dieser Hütte wartete ihre Vergangenheit. Ihre gestohlenen Tage. Die siebzehn Jahre. Sie konnte nicht einfach gehen. Ihr Schicksal hatte sich nicht verändert, als sie Isuria verlassen hatte, es war nur aufgeschoben worden. Sie konnte es nicht länger leugnen.
Sie schob die Kuhhaut beiseite und trat in die
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