Die Tränen der Massai
weißt, musst du es mir sagen.«
Die alten Augen blinzelten. »Was noch getan werden muss, kann nicht ausgesprochen werden.«
»Nun, hat mein Schicksal irgendetwas damit zu tun?«
»Wenn dir dein Schicksal enthüllt wird, wirst du auch viel über den
Mzungu
erfahren. Ebenso viel wie über dich selbst.«
Und danach wollte sie sich nicht mehr zum Thema Jack äußern.
Malaika kapitulierte. »Was kannst du mir über mein Schicksal sagen?«
»Ein andermal.« Kokoo warf ein paar kleine Gegenstände in eine Tasche. »Und jetzt komm, Kireko braucht mich.«
»Kireko!
Haki ya Mungu!
Ich hatte ihn beinahe vergessen.« Sie erinnerte sich, wie sie Noah und Tingisha geholfen hatte, Kireko im strömenden Regen auf den Rücksitz des Autos zu legen. Er hatte sie angelächelt, nicht ganz bei Bewusstsein, aber sie wusste, dass ihm klar war, dass sie bei ihm war. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass der Regen über sein hübsches Gesicht strömte. Zähne wie Perlen in diesem Lächeln, das sie so geliebt hatte, auch wenn er sie vor all diesen Jahren immer verspottet hatte. Wie hatte sie ihn aus ihrem Kopf ausschließen können?
»Geht es ihm gut?«
»Komm. Sieh selbst.«
Malaika half der alten Frau hoch. »Wo ist er?«
»In meiner Hütte«, sagte sie leise lachend. »Selbstverständlich brauchte er eine Hütte, die einem
Morani
angemessen war. Er konnte sie nicht mit dir, einer verwundeten Frau, teilen. Er war immer schon so.« Sie schüttelte den kahlen Kopf und lächelte. »So wie die Alten. Wie in früherer Zeit.«
Malaika folgte ihrer Urgroßmutter zu einer anderen Hütte und betrat sie hinter der alten Frau. Als sie in den Wohnraum kam, sah sie Kireko auf einer niedrigen Bettplattform liegen, und Noah stand an seiner Seite. Kireko wirkte immer noch so hager und mürrisch wie in Tingishas
Enkang,
als Malaika ihn zum ersten Mal gesehen hatte, aber als er den Blick zu ihr hob, umspielte ein kleines Lächeln seine Mundwinkel. Er nickte zum Gruß.
Bevor Malaika etwas sagen konnte, begann Kokoo mit einer leisen Rezitation. Die alte Frau schwankte, als sie auf das Bett zuging, genauer gesagt schien sie im flackernden Licht des Feuers zu schweben. Sie ging zwischen Malaika und Noah hindurch wie eine faltige Nymphe in einem langen roten Gewand und stellte sich ans Kopfende des Bettes. Ihre dünnen Arme beschrieben Spiralen über Kirekos Kopf. Malaika warf Noah, der mit distanziertem Interesse zusah, einen Blick zu. Nun hatte ihre Urgroßmutter plötzlich einen Vogel in der Hand. Malaika fragte sich, wieso sie ihn nicht vorher bemerkt hatte. Vielleicht war es ein Trick des flackernden Lichts, denn als sie näher hinsah, glaubte sie, dass die Hände ihrer
Kokoo
nicht nur einen Vogel hielten, sondern zu einem Vogel geworden waren. Der Vogel flatterte unter der rußigen Decke wie eine Verlängerung der Arme der Alten. Er stieg auf und flog in Kreisen umher, indem er einen Flügel senkte. Er wirbelte die rauchige Luft in der Hütte auf, bis er schließlich über Kirekos Kopf verharrte und diese Position hielt wie ein Falke, der seine Beute belauert. Mit ausgreifenden Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen der Flügel begann er einen langsamen Abstieg, um sich auf Kirekos Ockerzöpfen niederzulassen. In diesem Augenblick löste sich der Vogel in zwei faltige Hände auf, deren knochige Finger einen Moment über Kirekos Augen zuckten und sie schlossen. Dann nahm die Alte die Hände von ihrem Urenkel und trat an die Seite des Bettes.
Das Weiße von Kirekos Augen war hinter den Schlitzen der halb geschlossenen Lider zu sehen. Sein Körper schien tiefer auf das Bett zu sacken.
Kokoo setzte sich auf die Bettkante und zog das Tuch von Kirekos Wunde weg. Sie drückte vorsichtig an den Rändern des Risses in seinem Bauch. Der Riss verlief in einer gezackten Linie vom Nabel bis zum Hüftknochen. Kokoo nahm einen großen Kürbis und goss daraus etwas in ihre Hand, das aussah wie rohes Hammelfett. Sie drückte einiges davon in die Wundhöhle, dann nahm sie einen dünnen, fein gebogenen Knochen und ein Stück Sehne aus ihrer Tasche, die auf dem Boden neben ihr stand. Sie fädelte die Sehne, die vielleicht von einer Ziege stammte, in die Knochennadel und begann, Kirekos zerrissene Haut zu nähen. Das Hammelfett blieb in der Wunde. Hin und wieder betupfte sie die Wunde mit Blättern und Moos, bevor sie erneut nach Nadel und Sehne griff.
Als die Wunde ordentlich vernäht war, ließ sie die Hände ein paar Minuten auf ihrer Arbeit ruhen, bevor sie die
Weitere Kostenlose Bücher