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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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einen Gartenzaun und schlich in den Schatten eines Kuhstalls. Ich wagte nicht hineinzugehen, doch rollte ich mich an der Rückwand des Verschlags zusammen und zehrte von der dürftigen Wärme, die von den Leibern der Tiere herüberdrang. Ich musste sehr fest geschlafen haben, denn am nächsten Morgen überraschte mich der Besitzer des Stalls, schwang drohend einen Holzstecken und jagte mich unter Verwünschungen fort.
    Mir war elend wie einem getretenen Hund, als ich die Straße nach Norden hinaufstolperte und mich vom Dorf entfernte. Was sollte nur aus mir werden? Bald würde der Winter kommen, und wenn ich keine Bleibe fand, würde ich in der Wildnis erfrieren.
    Auf der Straße begegnete ich einem Mann, der einen Ochsenkarren voller Holzfässer führte. Die Fässer waren offen und leer, was mich vermuten ließ, dass es sich um einen fahrenden Böttcher handelte. Er grüßte, und sein freundliches Gesicht ermutigte mich, ihn anzusprechen.
    „Könnt Ihr einen Jungen bei Eurem Gewerbe brauchen, Herr?“
    Er musterte mich mitleidig. „Leider nein. Ich komme aus Remlingen; dort habe ich eine Werkstatt und auch einen Gesellen.“
    Resigniert ließ ich den Kopf hängen.
    „Woher kommst du?“, fragte der Mann.
    „Aus einem kleinen Dorf bei Blankenburg, Herr.“
    „Kriegswaise?“, erriet er.
    Ich bejahte stumm.
    „Wenn du keine Arbeit findest“, sagte der Böttcher, „solltest du ein Kloster aufsuchen. Am besten gehst du nach Brunsvik; dort gibt es ein Benediktinerkloster. Mönch kannst du nicht werden, denn das ist nur Männern von Adel gestattet. Doch ein Kloster hat auch Knechte und Laienbrüder, und ich habe gehört, dass die heiligen Männer oft Waisen in ihr Gesinde aufnehmen.“
    Ich dankte dem freundlichen Mann, und nachdem er mir den Weg nach Brunsvik gewiesen hatte, trieb er seinen Ochsen an und entfernte sich, nicht ohne mir zuvor Glück und Gottes Segen zu wünschen.
    Der Gedanke, in ein Kloster einzutreten, war mir bis dahin noch nicht gekommen. Erst jetzt erinnerte ich mich, dass mein Vater stets gesagt hatte, Barmherzigkeit sei die wichtigste christliche Tugend. Vielleicht würden die Mönche mir freundlicher begegnen als die Bauern, die es sich nicht leisten konnten, ihre wenige Habe mit Fremden zu teilen.
    Dass ich nicht gleich an die Kirche als an eine mögliche Rettung gedacht hatte, verdankte sich dem Umstand, dass sie in meinem bisherigen Leben kaum eine Rolle gespielt hatte. Zwar galt das Gesetz, dass jeder Christenmensch mindestens einmal im Jahr die Eucharistie zu empfangen hatte, doch angesichts der niemals endenden Arbeit auf den Feldern war es den Menschen in meiner Heimat nur selten möglich gewesen, die Kirche im vier Meilen entfernten Nachbardorf zu besuchen. Ein Kloster – dies wusste ich immerhin – war ein Ort, an dem heilige Männer lebten, um sich gänzlich dem Dienst an Gott und der Seelsorge für ihre Mitmenschen zu weihen. In diesem Licht erschien mir der Rat des mitleidigen Böttchers unbedingt beherzigenswert, und so beeilte ich mich, auf geradem Weg nach Brunsvik zu gelangen.
    Noch drei weitere Nächte verbrachte ich im Wald, trank Wasser aus einem Bach und nährte mich notdürftig von Beeren und Pilzen. Dann aber wendete sich mein Glück, denn ich erreichte einen Ort, wo mehrere Freibauern lebten – Bauern also, die keinem Grundherrn hörig waren, sondern ihr Land als freie Männer bestellten und lediglich eine Pacht dafür zahlten. Einer der Bauern besaß einen umfriedeten Garten, größer als das ganze Ackerfeld meines Vaters und bestanden von mehreren Dutzend Apfelbäumen. Als ich hier nach Arbeit fragte, wurde ich sogleich angenommen und erfuhr, dass sich aufgrund der bevorstehenden Obsternte bereits mehrere Tagelöhner auf dem Hof eingefunden hatten. So half ich eine Woche lang bei der Ernte, erhielt Brot und Hirsebrei und durfte mit den anderen Arbeitern im Kuhstall schlafen, wo es leidlich warm war. Dann zog ich weiter, gestärkt und mit größerer Zuversicht.
    Am Nachmittag des folgenden Tages erreichte ich Brunsvik. Der Anblick überwältigte mich, als ich die Kuppe eines Hügels erklomm und das Tal der Oker vor mir auftauchen sah. Noch nie hatte ich eine Stadt erblickt, und ich staunte über die gewaltige, von Mauern umgebene Anlage mit Hunderten von Häusern und einer mächtigen Burg, die sich auf einer Insel in der Flussmitte erhob. Als ich mich der Stadtbefestigung näherte, sank mir der Mut, denn das Stadttor war zwar geöffnet, wurde aber von bewaffneten

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