Die Tränen der Vila
bereits schwer, sich des eigenen Lebens in allen Einzelheiten zu erinnern, so noch schwerer, in die Seele eines anderen Menschen zu blicken, um nicht nur die Geschehnisse zu beschreiben, die ihm widerfuhren, sondern auch zu ahnen, wie er sich dabei gefühlt haben mag. Insbesondere für die gesprochenen Worte vermag ich nicht mit letzter Sicherheit zu bürgen, da ich nicht Zeuge der Gespräche war, so dass ich mir in diesem Punkt einige Freiheit nehmen muss. Dennoch werde ich alles nach bestem Gewissen so wiedergeben, wie ich es Jahre später erfuhr – aus welchem Munde, wirst du vielleicht erraten können.
Etwa zur gleichen Zeit nämlich, als ich mich in einem Wald nahe Brunsvik versteckte, saß auch ein anderes junges Wesen unter den Sternen am Fuß eines Baumes – jedoch weit fort, tief in den Wäldern auf der anderen Seite der Elbe, an einem Ort, den kein Christenmensch je betreten hatte. Es war ein Mädchen, neunjährig, von kleinem Wuchs für ihr Alter, mit dunklen Augen und einem wirren Schopf pechschwarzer Locken, deren längste ihr über Stirn und Wangen herabhingen. Gleich mir trauerte sie um den Verlust eines geliebten Menschen, nicht jedoch den des Vaters, sondern der Großmutter, die am Vortag gestorben war.
Milna – so lautete der Name der Großmutter – hatte am Morgen mit geöffnetem Mund auf ihrer Schlafbank gelegen, was an sich nicht ungewöhnlich war, denn zuweilen litt sie unter nächtlicher Atemenge. Das kleine Mädchen war wie stets zu ihr auf die Bank gekrochen, um sich an die Brust der alten Frau zu schmiegen, und hatte erst nach einiger Zeit die Kühle ihrer Haut und die Blässe ihrer Wangen bemerkt. Als sie festgestellt hatte, dass zwischen den geöffneten Lippen kein Atem mehr ging, hatte sie aufgeschrien und nach dem Vater gerufen.
Milna war fünfzig Jahre alt gewesen, ein durchaus stolzes Alter für eine Frau, die sieben Kinder zur Welt gebracht hatte und dabei so schmal und zartgliedrig war wie ihre Enkelin. Der Vater hatte sie hinausgetragen, mit derselben Leichtigkeit, mit der er eines der Kinder trug – nicht jedoch durch die Haustür, sondern durch ein eigens in die Hüttenwand geschlagenes Loch, wie es der Brauch verlangte. Nun ruhte Milna hinter dem Haus auf einem Holzstoß, der am folgenden Tag entzündet werden sollte, um ihre Seele von der Last des Leibes zu befreien. Ihre Asche würde in einem Gefäß gesammelt und vergraben werden, und über der Grabstätte würde der Vater einen kleinen Hügel aufschichten, umgeben von einem niedrigen Zaun.
Lana – so rief man das kleine Mädchen – trauerte um die Großmutter mehr als einst um ihre eigene Mutter, die im Kindbett gestorben war. Damals war Lana erst drei Jahre alt gewesen und hatte die Bedeutung des Geschehens noch nicht erfassen können. Nun aber, am Abend nach Milnas Tod, war sie aus dem Haus gegangen, um mit ihren Gedanken und Gefühlen allein zu sein.
„Svetlana!“, hatte die Stiefmutter ihr nachgerufen und dabei ihren vollständigen Namen benutzt, wie sie es stets tat, wenn sie wütend war. „Komm sofort zurück! Die Sonne geht schon unter!“
Der Vater jedoch hatte seine Frau besänftigt. „Lass sie gehen“, hatte er gesagt. „Für Lana ist es am schwersten. Hab Geduld, sie wird von selbst wiederkommen.“
Lana hatte das kleine Dorf durchquert, den Pfad zum Bach eingeschlagen und sich unter ihren Lieblingsbaum gesetzt, eine mächtige Buche, deren Blätter im Wind rauschten. Die Sonne war bereits versunken, und im Wald erwachten die Tiere: Nachtvögel ließen ihre klagenden Rufe ertönen, ein Wiesel raschelte im Unterholz, und ganz in der Ferne war das Röhren eines Hirsches zu vernehmen.
Andere Kinder – und selbst manche Erwachsene – fürchteten sich in der Dunkelheit. Die Stiefmutter, Maika, sagte stets, es sei gefährlich, bei Nacht an den Bach zu gehen, denn manchmal tanzten dort die Wasserfrauen, Geister mit durchsichtigen Leibern, die den Lebenden nicht wohlgesonnen waren. Auch hieß es, dass der gänsefüßige Wassermann zuweilen ans Ufer kam, um Mädchen zu rauben und in sein nasses Reich zu entführen. Lana jedoch empfand keine Furcht, denn sie liebte diesen Ort. Hier hatte sie oft mit Milna gesessen, wenn sie zusammen zum Wasserschöpfen gegangen waren, und hier hatte die Großmutter ihr von den Geistern und Göttern, den Helden der Vorzeit und den Taten der Ahnen erzählt.
Es gab einen besonderen Grund, warum Lana sich nicht vor Geistern und Elfen fürchtete: Milna nämlich hatte ihr
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