Die Tränen der Vila
Käuferin, die lautstark die Qualität seiner Früchte bemängelte.
„Zwei Dutzend für einen Pfennig?“, rief die Frau entrüstet und musterte einen wurmstichigen Apfel, der verdächtig nach Fallobst aussah. „Das ist Wucher! Schätzt Euch glücklich, wenn ich Euch zwanzig Stück für einen Heller abnehme!“
Der Alte brummelte unwirsch, empfing die Münze und prüfte umständlich ihre Echtheit, indem er hineinbiss. Dann zählte er zwanzig Äpfel ab, griff jedoch absichtlich nach den kleinsten und schadhaftesten, die er finden konnte.
„Zwanzig Äpfel! “, schrie die Frau. „Auf zwanzig Würmer kann ich verzichten! Warum gebt Ihr mir nichts von diesen dort?“
Und sie wies auf einen Korb mit besonders prallen, goldfarbenen Früchten, der am äußersten Ende des hölzernen Tresens stand.
Während sie so stritten, schob ich mich vorsichtig zum Rand des Tresens, streckte eine Hand nach den goldfarbenen Äpfeln aus und barg einen davon unter meinem Kittel. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, doch ich glaubte, meine Sache gut gemacht zu haben, denn der Alte fuhr fort, zu schimpfen und zu murren, ohne auch nur den Blick nach mir zu wenden. Unwillkürlich regte sich etwas wie Stolz in mir – gewiss eine höchst unchristliche Regung angesichts meiner Geschicklichkeit als Verbrecher.
Die Stimme der Frau jedoch erstarb plötzlich, und aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass sie mir misstrauisch nachsah. Erschrocken wandte ich mich zum Gehen, machte aber sogleich jenen Fehler, der den ungeübten Dieb verrät: Ich ging zu schnell, und meine Hast ließ den Verdacht der Beobachterin zur Gewissheit werden.
„Haltet den Jungen!“, schrie sie und deutete auf mich. „Haltet den Dieb!“
Der Besitzer des Standes fuhr herum, und als er sah, wie ich mich mit unter dem Kittel geballter Faust davonmachte, reckte auch er den dürren Arm nach mir.
„Haltet ihn!“
Panik ergriff mich, und ich beging den nächsten Fehler, indem ich zu rennen begann und kopflos das Weite suchte, womit ich die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zog. Jemand packte den Saum meines Kittels, der jedoch so stark zerschlissen war, dass der Stoff zerriss und nur ein Fetzen in den Händen des Häschers zurückblieb. Ein Faustschlag traf mich von der Seite, doch ich war wie betäubt und empfand keinen Schmerz. So rannte ich die Straße hinunter, die vom Marktplatz nach Westen führte, und fragte mich verzweifelt, wohin ich mich wenden sollte. Deutlich hörte ich, dass mindestens drei oder vier Menschen mir auf den Fersen waren. Womöglich würden sie mich im Kreis durch die Straßen jagen, bis ich vor Erschöpfung zusammenbrach, und dann drohte mir das Abschlagen der Hand oder gar der Tod am Galgen.
Es war reines Glück, dass ich den Weg fand, der zum westlichen Stadttor führte. Während ich entgegenkommenden Händlern und Fuhrwerken auswich, näherte ich mich dem Wall und erblickte auch hier Wachsoldaten, die soeben einen Seiler angehalten hatten, um dessen Handkarren zu inspizieren. Ich nutzte die Gelegenheit, flankte um die Rückseite des Karrens und rannte durch das Tor, während den Wachsoldaten eben genug Zeit blieb, um die Köpfe nach mir zu wenden. Meine Verfolger waren glücklicherweise zurückgeblieben, so dass der Ruf „Haltet den Dieb“ nicht mehr zu hören war. Erst im letzten Moment reagierte einer der Wächter und rief mich mit barscher Stimme an – doch da war ich schon auf den breiten Zufahrtsweg hinausgelaufen und hatte mich unter die Menschen gemischt, die aus allen Richtungen zum Tor strömten.
Ich weiß nicht, ob man den Versuch unternahm, mir zu folgen, denn ich blickte nicht zurück. Jedenfalls hielt niemand mich auf, bis ich einen Hügel erreicht hatte, an dessen Fuß die Straße eine Kurve beschrieb und ein kleines Wäldchen umschloss. Hier schlug ich mich seitwärts in die Büsche, verlangsamte meinen Schritt, tauchte in den Schatten der Bäume und sank schließlich an einem der Stämme nieder.
Von einem fremden Mädchen
Bis hierher, mein Sohn, habe ich dir nur diejenigen Ereignisse geschildert, die unmittelbar mir selbst widerfuhren. Gleichzeitig jedoch, in einem anderen Teil der Welt, bereiteten sich Dinge von ebenso großer Wichtigkeit vor, auch wenn du noch nicht verstehen wirst, auf welche Weise sie dein Schicksal bestimmten. Da aber die Gabe der Allwissenheit allein Gott zu Gebote steht, kann ich dir vieles nur so schildern, wie es mir später berichtet wurde, ergänzt um manches, was ich erraten musste. Ist es
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