Die Tränen der Vila
trotzig.
„Schön“, sagte Hartmann und benagte eine Hasenkeule, wobei er den Blick über das Lager schweifen ließ. „Da ist sie ja!“, fügte er mit vollem Mund hinzu und deutete zu einem niedrigen Schweinekoben hinüber, der zum Zelt unserer Nachbarn gehörte. Lana lehnte an dem hüfthohen Zaun und warf den Tieren Apfelrinden zu. Neben ihr stand Ladislav, der erwachsene Sohn ihrer Gastfamilie.
„Die beiden sieht man oft zusammen“, bemerkte Hartmann. „Vielleicht ist sie seine Braut.“
Ich nickte, denn dieser Gedanke war auch mir schon gekommen; allerdings hatte ich ihn mittlerweile verworfen. Der Jüngling war zwar oft in Lanas Nähe, doch wenn sie miteinander sprachen, schien es oft, als ob sie stritten – so auch jetzt. Ladislav hatte sich wie zufällig in Lanas Nähe gedrängt und redete leise auf sie ein. Sie fuhr fort, die Schweine zu füttern, und gab ihm sichtlich nur einsilbige Antworten. Als er die Hand ausstreckte, um ihren Arm zu berühren, entzog sie sich ihm, um rasch zum Zelt zurückzukehren. Ihre Abweisung war offensichtlich und löste in mir ein seltsames Gefühl der Befriedigung aus.
„Sie kann nicht seine Braut sein“, sinnierte ich halblaut, „so kühl, wie sie mit ihm umgeht.“
Hartmann, bei diesem Thema wieder ganz der Alte, lachte herzlich. „O doch, das kann sie. Du hast nicht viel Erfahrung mit Frauen, oder? Glaub mir: Je unnahbarer sie sich geben, desto ernster ist die Angelegenheit.“
„Meint Ihr?“, fragte ich, vielleicht eine Spur zu offenkundig interessiert.
Hartmann zog forschend die Augenbrauen zusammen, dann lächelte er verschmitzt. „Kann es sein, dass du ein Auge auf sie geworfen hast, mein junger Freund?“
„Wie kommt Ihr darauf?“, fragte ich erschrocken.
Hartmann zuckte mit den Achseln.
„Sie ist doch eine Heidin“, sagte ich, als sei die Absurdität seiner Vermutung damit hinreichend geklärt.
„Aber sie ist auch eine Frau, und ganz gewiss keine Hexe, wie Ordulf und die anderen glaubten. Sie brauchte keine übernatürliche Hilfe, um uns durch die Wälder zu verfolgen und einen nach dem anderen zu töten. Sie mag klein von Gestalt sein, aber an Mut und Zähigkeit übertrifft sie manchen Krieger, den ich kannte.“ Hartmann seufzte. „Ich weiß, sie hasst mich – und ich hätte Grund, ebenso zu fühlen, denn schließlich war sie es, die mir das Bein zerschlagen hat. Dennoch muss ich zugeben: Dieses kleine Biest hat Feuer. Das ist etwas anderes als eine sächsische Edeldame, deren Hände zeitlebens nur Spinnwirtel und Kochlöffel berühren und drei- oder viermal im Jahr, wenn der Kirchenkalender es gestattet, ausnahmsweise auch ihren Ehemann. Ich sage dir: Wenn ich halb so alt wäre, wie ich bin …“
Er sprach nicht weiter. Vielleicht hätte ich ihm seine unziemlichen Worte übelnehmen müssen, doch stattdessen fühlte ich mich seltsamerweise in Empfindungen bestärkt, die ich gerade erst zu entdecken begann und die Hartmann mit seiner größeren Erfahrung trefflich erraten hatte.
Von den Tränen im Mondschein
Drei volle Wochen weilten wir im Lager der Wenden, und der August ging dahin, bis es mir endlich gelang, vollständige Sätze in der fremden Sprache zu bilden. Lana kam inzwischen regelmäßig abends zum Bach, und ich übte meine neue Fertigkeit. Noch konnte ich besser verstehen als selbst sprechen, so dass ich mich lange darauf beschränkte, Fragen zu stellen. Dennoch waren meine Fortschritte rasch, denn es drängte mich, mit Lana zu sprechen, und der Verstand pflegt sich bekanntlich mit Feuereifer auf das zu werfen, wonach die Seele dürstet.
„Wer ist Ladislav?“, fragte ich eines Abends. Diese Frage beschäftigte mich sehr, da der junge Mann uns häufig beobachtete.
„Er ist der Sohn von Werslav, dem Bogenmacher“, antwortete Lana. „Seine Familie hat mich aufgenommen, weil sie aus demselben Dorf stammt.“
Ich brauchte einen Augenblick, um ihre Worte im Geist zu wiederholen und vollständig zu verstehen. Nun wollte ich nach der merkwürdigen Beziehung zwischen ihr und dem jungen Mann fragen, doch der schwierige Sachverhalt ging über meine sprachlichen Fähigkeiten hinaus.
„Ist er … ist er dein …“
„Er mag mich“, sagte Lana, die meine Frage erriet.
„Magst du ihn auch?“, fragte ich recht kühn.
Lana starrte abwesend in das rasch fließende Wasser des Bachs. „Ich weiß nicht“, sagte sie schließlich. „Er hat mich einmal geküsst, aber das ist lange her.“
Das wendische Wort für „küssen“
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