Die Tränen der Vila
war mir noch unbekannt, und so signalisierte ich Unverständnis. Lana lächelte und errötete, was sich auf ihrem blassen Gesicht seltsam anrührend ausnahm. Dann spitzte sie die Lippen.
„Ich verstehe nicht“, sagte ich ratlos.
Einen Moment lang schien sie zu sinnen, wie sie den Begriff erklären könnte, dann neigte sie sich kurzerhand zu mir herüber und berührte mit den Lippen flüchtig meine Wange. Dies hatte zweierlei Dinge zur Folge: zum einen, dass ich endlich die Bedeutung des Wortes verstand, zum anderen, dass nunmehr ich derjenige war, der errötete. Für einige Zeit vermieden wir es, einander anzusehen.
„Weiß Ladislav, dass euer Dorf zerstört wurde?“, fragte ich schließlich.
Lana nickte.
„Was hast du deinen Leuten eigentlich über uns gesagt? Wissen sie, dass wir es waren, die ...“
Wiederum schien sie den Sinn meiner Frage im Voraus zu ahnen. „Ich habe ihnen nur gesagt, dass ich euch verirrt in den Wäldern gefunden habe“, erwiderte sie.
Ich staunte. Das also war der Grund, warum die Wenden uns nicht getötet oder gefesselt, sondern wie Gäste aufgenommen hatten. Niemand wusste von der tagelangen Verfolgungsjagd durch Moor und Wald, von Lanas Rachefeldzug und den Dutzenden Männern, die sie durch Feuer und geschickte Pfeilschüsse getötet hatte. Sie hatte alles verschwiegen, was von der Plünderung ihres Dorfes bis zu unserer Ankunft im Lager geschehen war.
„Dann weiß also auch niemand“, setzte ich vorsichtig an, „wie deine Eltern und Geschwister …?“
Ich suchte nach dem Wort für „gestorben“, doch zum dritten Mal erriet Lana, was ich meinte, bevor ich es aussprach. Sie schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen – und auch ich wagte den Blick nicht vom Wasser zu wenden, so dass ich ihre Tränen erst bemerkte, als sie hörbar schluchzte. Sogleich schalt ich mich grausam und gefühllos und hätte mich ohrfeigen mögen, doch es war zu spät. Lana sprang auf, rannte zur Böschung hinüber, erklomm sie mit zwei raschen Sätzen und huschte in den Wald davon.
„Lana! Komm zurück! Es tut mir leid!“, rief ich, doch vor Erregung verfiel ich in meine Muttersprache, und mein Ruf verhallte unverstanden. Ich stand auf, tat ein paar Schritte in Richtung der Böschung und verharrte, unentschlossen, ob ich ihr folgen oder sie mit ihrem Schmerz allein lassen sollte. Dabei trat ich fast auf meinen Herrn, der sich unter einem Baum zum Schlafen niedergelassen hatte. Er blinzelte erstaunt zu mir hoch.
„Was ist passiert?“
„Lana“, sagte ich zittrig. „Ich habe etwas sehr Dummes gesagt … sie …“
„Ich sah sie vorbeilaufen“, sagte Hartmann ruhig. „Es schien mir, dass sie weinte.“
Ich nickte beschämt. „Ich weiß nicht, ob …“
„Ob du ihr folgen sollst?“, erriet mein Herr und maß mich mit einem ernsten Blick. Plötzlich lächelte er. „Ja, Odo, das solltest du.“
Noch nie war ich ihm so dankbar für einen Rat gewesen.
Wie von selbst schlug ich den Weg zur Lichtung ein, wo sich der Tanzplatz der Vila befand. Ich zweifelte nicht daran, dass Lana sich hierher geflüchtet hatte, denn ich wusste inzwischen, dass sie diesen Ort regelmäßig aufsuchte. Sie fürchtete den Geist nicht, der auf der Lichtung umging, und zugleich konnte sie sicher sein, dass niemand sie dort störte.
Als ich näher kam, sah ich sie tatsächlich in dem offenen Kreis aus mondbeglänztem Gras sitzen, eingehüllt vom bleichen Bodennebel, den Kopf gesenkt, die Arme um die Knie geschlungen. Zuerst zögerte ich, denn ich empfand eine gewisse Scheu vor dem verwunschenen Ort und dachte daran, wie Lana selbst mich vom Betreten des Grases abgehalten hatte. Dann aber überwand ich mich, tauchte in den Nebel ein und spürte das Mondlicht auf meinem Gesicht.
So betrat ich den Tanzplatz der Vila. Damals wusste ich noch nicht, worin genau die Gefahr bestand, die man einem solchen Ort zuschrieb: dass nämlich jeder Mann, der seinen Fuß darauf setzte, von der Geisterfrau mit einem Bann belegt wurde, in Liebe zu ihr verfiel und gezwungen war, bis in alle Ewigkeit mit ihr zu tanzen. Doch hätte ich es auch gewusst, es wäre mir gleichgültig gewesen, denn meine Vila war Lana, und ihr Bann lag längst auf mir.
Ich ließ mich an ihrer Seite nieder und lauschte eine Weile ihrem bebenden Atem. Schließlich streckte ich eine Hand aus und wagte es, über ihr Haar zu streichen. Die schwarzen Locken, so fest und widerspenstig anzusehen, waren überraschend weich. Die hellen Strähnen, die das
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