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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Grauen bei der Auslöschung ihrer Familie hineingewirkt hatte, schimmerten im Mondlicht wie Silberfäden. Vielleicht hätte ich weichen sollen, um dieses so schwer verwundete Wesen nicht zusätzlich mit meiner Gegenwart zu quälen. Doch andere Empfindungen stiegen in mir auf und erwiesen sich als stärker: Tiefes Mitleid bewegte mich, der Wunsch, zu trösten und zu bergen, und nicht zuletzt eine überwältigende Zärtlichkeit. So legte ich einen Arm um ihre Schultern, zog sie an mich und barg ihren Kopf an meiner Brust.
    Ich hatte mit Widerstand gerechnet, mit Abweisung und jäher Gegenwehr, doch nichts dergleichen geschah. Lana ergriff den dargebotenen Halt, schlang beide Arme um meine Schultern und schmiegte sich fest an mich, das Gesicht im Ausschnitt meines Sarrocks vergraben. Ich fühlte ihre Tränen auf meiner nackten Haut, wobei mir das Herz laut in der Kehle schlug. Sie war so klein, dachte ich plötzlich – nicht mehr die wilde Frau aus den Wäldern, die ihren tödlichen Bogen spannte, sondern ein junges Mädchen, das einsam und verzweifelt war, furchtbare Dinge erlebt und den gesamten Schmerz bis zu diesem Augenblick verdrängt hatte. Lange Zeit hielt ich sie wie ein Kind, strich über ihren schmalen Rücken und fühlte das Beben ihres Körpers.
    Es dauerte lange, bis sie sich beruhigte und ihr krampfhafter Atem sich entspannte. Irgendwann hob sie langsam den Kopf und sah zu mir auf, als könnte sie nicht glauben, dass ich es war, der sie im Arm hielt. Ihr Gesicht war nass von Tränen, und der Anblick rührte mich so sehr, dass ich ihren Kopf in beide Hände nahm und das Haar zurückstrich, dessen dunkle Strähnen auf den feuchten Wangen klebten. Nun erst sah ich die ganze Schönheit, die darunter verborgen war, und schauderte vor Verlangen beim Anblick ihrer dunkel glühenden Augen. Sanft küsste ich diese Augen – vielmehr die Lider, die sie beim Nahen meiner Lippen schloss –, und ich küsste die weiße Stirn, die zierliche Nase, das geschwungene Band blasser Sommersprossen, die zarten Wangen, die weichen Mundwinkel, und der Geschmack ihrer Haut war fremd und erregend wie vom Duft unbekannter Gewürze.
    Sie verharrte mit geschlossenen Augen und duldete mein Tun. Als ich mich jedoch – beschämt über meine eigene Kühnheit – ein wenig von ihr zurückzog, war sie es, die sich plötzlich an mich drängte. Ihre Lippen suchten die meinen, und zunächst waren sie rauh und trocken vom Weinen, dann aber warm und zart und schließlich feuchtglühend.
    „Allmächtiger Gott“, flüsterte ich überwältigt, als sie sich von mir löste und ihr Gesicht wieder an meinem Hals barg. „Gelobt seist du, wenn es dein Wille ist, was an mir geschieht. Wenn du aber dieses Wesen in meinem Arm verdammst, weil es nicht an Christus glaubt, und seinem Volk Unglück und Leid bringst, weil es sich deinen Priestern widersetzt – dann sei verflucht!“
    Und in einer jähen Aufwallung griff ich nach dem weißen Stoffkreuz, das mit groben Stichen auf die Schulter meines Gewands genäht war, riss es herunter und warf es von mir.
    Lana, die meine Worte nicht verstehen konnte, schien dennoch den Sinn der Geste zu erfassen. Das Kreuz hatten jene Männer getragen, die über ihr Dorf hergefallen waren; in seinem Zeichen waren ihre Eltern und Geschwister getötet worden. Es musste für sie ein Symbol des Schreckens sein, und dass ich mich freiwillig seiner entledigte, hob den letzten Rest von Fremdheit zwischen uns auf. Alles Weitere geschah gemäß dem Willen einer höheren Macht, deren zwingende Gewalt ich ebenso spürte wie ihre überfließende Gnade und die ich nicht mehr Gott zu nennen wagte.
    Wie könnte ich mit Worten beschreiben, was geschah? Wie meinem ungläubigen Erstaunen Ausdruck verleihen, als Lana sich von mir löste, ihr Kleid bei den Säumen fasste und es mit einer ebenso geschmeidigen wie entschlossenen Bewegung über den Kopf zog? Wie soll ich die Schauer beschreiben, die mich beim Anblick dieses nackten Leibes überliefen, der so klein und zart und dennoch der einer vollends erblühten Frau war? Und wie kam es, dass ich selbst mich meines Gürtels, des Sarrocks und der Bruche entledigt sah, ohne sagen zu können, ob ihre oder meine Hände dies vollbracht hatten?
    Ich weiß nur, dass ich im Mondschein auf jener Lichtung saß und dass sie plötzlich auf mir war, die warme Haut vom Nebel leicht befeuchtet, Arme und Beine um mich geschlungen, ihr Schoß in den meinen versenkt, ihre heiße Wange an meiner Schläfe. Ihr

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