Die Tränen der Vila
tagsüber nur selten. Zwar schlief sie im Zelt ihrer Gastfamilie, doch beobachtete ich, dass sie häufig das Lager verließ, um allein durch die umliegenden Wälder zu wandern. Stets trug sie ihren Bogen bei sich und kehrte oft erst nach Stunden zurück. Am Abend, wenn die Menschen sich in ihre Behausungen zurückzogen, saß sie häufig am Bach, und wann immer es möglich war, gesellte ich mich zu ihr.
Meist saßen wir schweigend nebeneinander und blickten ins Wasser, bevor ich mich überwand, sie anzusprechen. Gewöhnlich leitete ich die Unterhaltung damit ein, dass ich neue Wörter nannte, die ich bei der Arbeit im Lager aufgeschnappt hatte. Zu diesem Zweck wies ich auf den betreffenden Gegenstand oder zeichnete ihn mit dem Finger in den Sand, und Lana berichtigte gegebenenfalls meine Aussprache. Auf diese Weise erlernte ich eine ganze Anzahl wendischer Wörter und schließlich selbst Redewendungen, so dass ich beginnen konnte, einfache Sätze zu bilden. Zahlreiche Irrtümer und Missverständnisse gaben Anlass zur Heiterkeit, und ich freute mich jedes Mal, wenn ein Lächeln ihr ernstes Gesicht erhellte.
„Was bedeutet dein Name?“, fragte ich eines Abends, nachdem ich tagsüber gehört hatte, dass manche Menschen im Lager sie „Svetlana“ riefen.
„Svet“, sagte Lana und wies hinauf zu den Gestirnen.
„Mond?“, riet ich. „Sterne?“
Sie schüttelte den Kopf, überlegte kurz und deutete hinüber zu einem der Lagerfeuer.
„Feuer?“, sann ich weiter.
Abermals verneinte sie stumm, biss sich auf die Unterlippe und wies schließlich auf den Bach vor unseren Füßen.
„Wasser … und zugleich Feuer?“ Nun war ich endgültig verwirrt – bis ich das Mondlicht auf dem Wasser glitzern sah und endlich verstand.
„Licht!“, rief ich aus. „Es ist das Licht! Dein Name bedeutet Licht? Oder hell? “
Sie lächelte, und ich nahm an, dass ich zutreffend geraten hatte.
„Was bedeutet dein Name?“, fragte Lana zurück.
Darauf konnte ich keine so einfache Antwort geben, schon gar nicht in wendischer Sprache. Man hatte mir erzählt, dass mein Namenspatron, Odo von Canterbury, ein englischer Bischof gewesen sei, der sich um die Bekehrung der Heiden in jenem Inselreich verdient gemacht hatte. Das hätte ich Lana jedoch nur ungern erklärt; schließlich verband sie nicht gerade erfreuliche Erfahrungen mit der Heidenmission. So zuckte ich nur mit den Schultern und lenkte sie mit einer neuen Frage ab, denn ich erinnerte mich, wie die Männer über einen Ort in den Wäldern gesprochen hatten, den sie bei ihren Jagdausflügen mieden.
„Was ist ‚Vila‘?“
„Vila ...“, wiederholte Lana nachdenklich, offenbar angestrengt sinnend. Ich ahnte, dass es sich um eines jener Worte handeln musste, deren Erklärung lange Zeit in Anspruch nehmen würde. Am Ende schüttelte sie den Kopf.
„Es muss etwas Gefährliches sein“, überlegte ich laut, unwillkürlich in meine Muttersprache verfallend. „Vielleicht ein Sumpf? Eine Höhle? Oder der Ort, wo eine Wildsau ihre Jungen großzieht?“
Lana erhob sich plötzlich. „Komm!“, sagte sie auf Wendisch und beschränkte sich auf die wenigen Worte, die ich inzwischen verstand. „Ich zeige es dir.“
Erstaunt folgte ich ihr zum Rand der Senke, vorbei an Hartmann, der längst schlief, die Böschung hinauf und in den Wald hinein. Leichtfüßig lief Lana voraus, huschte wie ein Schatten zwischen den Bäumen dahin und wechselte mehrmals abrupt die Richtung. Schließlich näherten wir uns einer Lichtung, und Lana verlangsamte ihre Schritte, duckte sich hinter einen Baum und spähte auf den offenen Platz hinaus. Ich trat hinter sie und folgte ihrem Blick.
Die Lichtung war kreisrund und von hohem Gras bedeckt, auf dessen Spitzen das Mondlicht spielte. Zuerst glaubte ich, wir hielten nach einem Tier Ausschau, das diesen Ort als nächtlichen Ruheplatz nutzte. Allerdings war weit und breit kein lebendes Wesen zu sehen. Stattdessen lagerte ein leichter Nebel über dem Gras, erhellt vom Mondlicht, ein gespenstischer Schemen inmitten der umgebenden Dunkelheit. Bei vernünftiger Betrachtung war diese Erscheinung leicht erklärbar: Gewiss bewirkte das fehlende Blätterdach, dass sich der Boden an dieser Stelle tagsüber erwärmte, so dass die Feuchtigkeit in der Nacht als Nebel aufstieg. Dennoch war der Anblick unheimlich, denn es schien, als schwebte ein matt leuchtendes, körperloses Wesen in der Mitte der Lichtung, das mit geisterhaften Gliedmaßen aus treibendem Dunst um
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